Das Flüstern der Nacht
Leesha Gewalt verabscheute, beschränkte er sich auf Selbstverteidigung. Er packte Gareds Handgelenk, drehte sich um die eigene Achse, zog den Hünen glatt über den Tisch und warf ihn auf den Rücken. Nur einen einzigen Zeh stellte er auf Gareds Kehle, und das astdicke Handgelenk hielt er lediglich mit zwei Fingern fest; doch obwohl der massige Holzfäller sich verzweifelt wehrte, blieb er hilflos liegen, und sein Gesicht wurde mit jeder Sekunde röter.
»Deine Gebieter führen ein Gespräch, Sharum !«, zischte er. »Aus Respekt vor Meisterin Leesha habe ich deine ständigen Schmähungen geduldet, aber wenn du noch einmal versuchst, mich anzugreifen, reiße ich dir den Arm aus!« Er zog an Gareds Handgelenk, und der Riese brüllte vor Schmerzen. Alle blickten auf
Leesha und warteten auf einen Hinweis, wie sie sich verhalten sollten.
Leesha verschränkte die Arme. »Das geschieht dir recht, Gared Holzfäller. Niemand hat dir befohlen, in meinem Haus jemanden zu attackieren.« Mit dem Kinn wies sie in Richtung der Tür. »Raus mit dir. Rojer und Wonda, ihr geht gleich mit. Ihr könnt draußen im Hof warten.«
»Den Horc werden wir tun!«, krähte Rojer, und Wonda nickte zur Bekräftigung. »Wenn du glaubst, wir lassen dich allein mit diesem …!«
Vor ihren Füßen knallte und blitzte es, und erschrocken sprangen sie zur Seite. Leesha sagte nichts, aber ihr Gesicht glich einer Sturmwolke, als sie mit ausgestrecktem Arm auf die Tür zeigte. Im Nu wieselten beide nach draußen. Jardir ließ Gared los, und auch der suchte schleunigst das Weite.
Jardir verbeugte sich lange und tief vor Leesha. »Ich bitte um Vergebung, Meisterin, obwohl ich nicht weiß, womit ich dich erzürnt habe. Ich kam in ehrenhafter Absicht zu dir und zu deiner Familie, und dennoch tust du so, als wollte ich dich verschleppen, nachdem ich euren Brunnen gestohlen habe.«
Leesha ließ sich viel Zeit mit der Antwort, und sie versuchte gar nicht erst zu verbergen, wie aufgebracht sie war. Sie strahlte so viel Wut aus, dass Jardir der Wunsch überkam, seine Augen abzuschirmen wie bei einem Sandsturm. Allmählich umarmte sie ihren Zorn, und ihre Züge glätteten sich wieder.
»Ich entschuldige mich ebenfalls«, erwiderte sie. »Meine Wut gilt nicht dir; ich bin nur so zornig, weil ich als Letzte erfahre, dass du zu mir gekommen bist, weil du um mich werben willst.«
»Abban sagte deinen Eltern, ich würde dich umgehend aufsuchen«, erklärte Jardir. »Ich war davon ausgegangen, dass sie dir eine Nachricht geschickt hätten.«
Leesha nickte. »Ich glaube dir. Es ist nicht das erste Mal, dass meine Mutter versucht, ohne mein Wissen über mich zu bestimmen.«
Jardir verneigte sich. »Wenn du Zeit zum Nachdenken brauchst, kann ich auf deine Antwort warten.«
»Ja …«, begann Leesha. »Ich meine, nein. Das heißt, ich fühle mich geschmeichelt, aber ich kann dich nicht heiraten.«
Du wirst es aber tun, dachte Jardir. Es ist dir vorherbestimmt, mich zu lieben, so wie ich dich jetzt schon liebe.
Laut fragte er: »Warum nicht? Deine Mutter sagte, du seist niemandem versprochen, und ich entrichte jeden Brautpreis, den deine Familie für dich verlangt. Schon bald werde ich über das gesamte Nordland herrschen, und du sollst diese Macht mit mir teilen. Welcher Gemahl könnte dir mehr bieten?«
Leesha schwieg eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf, wie um ihre Gedanken zu klären. »Das spielt keine Rolle. Ich kenne dich kaum, ein Brautpreis bedeutet mir nichts, und offen gestanden will ich überhaupt nicht, dass du über irgendetwas oder irgendjemanden ›herrschst‹.«
»Komm mit mir in die Gegend, die wir Everams Füllhorn nennen«, schlug Jardir vor. »Lerne mein Volk kennen und sieh dir an, was wir errichten. Ich werde dich unsere Sprache lehren, wie du es dir wünschst, und dabei lernst du mich besser kennen. Dann entscheide, ob ich würdig bin … zu herrschen.«
Leesha sah ihn eine geraume Zeit lang an; Jardir wartete geduldig, denn er wusste, dass ihre Antwort Everams Willen entsprach. »Also gut«, gab sie schließlich nach. »Aber mit angemessener Begleitung, und meine Entscheidung wirst du erst erfahren, wenn ich wieder sicher ins Tal zurückgekehrt bin.«
Jardir verneigte sich. »Selbstverständlich. Ich schwöre es bei Everam.«
Rojer tigerte im Hof auf und ab und beobachtete Leeshas Hütte. Gareds geballte Fäuste glichen zwei riesigen Schinken, und sogar
Wonda hatte ihren Bogen geholt. Endlich ging die Tür auf, und Leesha
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