Das Flüstern der Nacht
ein schützendes Netz um sie, dem sich kein alagai zu nähern wagte.
»Wir können ihn bewegen«, erklärte Leesha schließlich. »Ich habe die Blutung gestillt, aber er muss operiert werden, und dazu brauche ich einen richtigen Tisch und bessere Beleuchtung.«
»Wird er am Leben bleiben und wieder kämpfen können?«, erkundigte sich Jardir.
»Er atmet noch«, gab Leesha zurück. »Reicht das nicht fürs Erste?«
Jardir runzelte die Stirn und wählte seine Worte mit Bedacht. »Wenn er nie wieder kämpfen kann, wird er sich später wahrscheinlich selbst das Leben nehmen.«
»Damit er nicht als khaffit endet?«, fragte Leesha unwirsch.
Jardir schüttelte den Kopf. »Restavi hat Hunderten von alagai die Sonne gezeigt. Sein Platz im Himmel ist ihm sicher.«
»Warum sollte er sich dann umbringen?«
»Er ist ein Sharum «, erklärte Jardir. »Dazu bestimmt, durch alagai -Krallen zu sterben, und nicht alt und verhutzelt in einem Bett, eine Bürde für seine Familie und den Stamm. Deshalb kümmern sich die dama’ting erst im Morgengrauen um die Verwundeten.«
»Wenn die mit den schwersten Verletzungen bereits gestorben sind«, ergänzte Leesha.
Jardir nickte.
»Das ist unmenschlich«, entschied sie.
Jardir zuckte die Achseln. »Es ist unser Brauch.«
Leesha sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Darin besteht der Unterschied zwischen uns. Deine Leute leben um zu kämpfen, während meine kämpfen um zu leben. Was werdet ihr tun, wenn ihr den Sharak Ka gewinnt und es nichts mehr zu bekämpfen gibt?«
»Dann sind Ala und der Himmel vereint, und alles ist ein Paradies.«
»Und warum hast du diesen Mann dann nicht getötet, als er dich darum bat?«
»Weil du es mir untersagt hast. Ich habe einmal den Fehler gemacht, eine solche Bitte von einem deiner Leute zu missachten, und das kostete beinahe unsere Freundschaft.«
Leesha legte den Kopf schräg und musterte ihn neugierig. »Sprichst du von dem, den Abban Par’chin nennt?«
Jardirs Augen verengten sich. »Was hat der khaffit dir über ihn erzählt?«
Mit ernster Miene erwiderte Leesha seinen Blick. »Nur, dass er und dieser Par’chin Freunde waren, und dass ich ihn an diesen Mann erinnere. Warum fragst du?«
Jardirs Zorn auf Abban flaute genauso plötzlich ab, wie er hochgebrodelt war. Zurück blieb ein Gefühl der Leere und Traurigkeit. »Der Par’chin war auch mein Freund«, erwiderte er nach längerem Schweigen. »In mancherlei Hinsicht gleichst du ihm, in anderer seid ihr grundverschieden. In der Brust des Par’chin schlug das Herz eines Kriegers.«
»Und was heißt das?«
»Das heißt, dass er niemals einen Menschen dem Tod überlassen hätte, aber er lebte auch um zu kämpfen. Als sein Körper zerschmettert war und keine Hoffnung mehr bestand, blieb er nicht etwa liegen und wartete auf das Ende. Er strengte sich an, noch einmal auf die Füße zu kommen, und kämpfte bis zum letzten Atemzug.«
»Er ist tot?«, fragte Leesha überrascht.
Jardir nickte. »Schon seit vielen Jahren.«
Im Operationszimmer eines ehemaligen Rizoner Hospitals arbeitete Leesha bis spät in die Nacht, schnitt an dem verletzten Krieger herum und nähte die Wunden zusammen. Ihre Arme waren mit Blut verschmiert und ihr Rücken schmerzte, aber Restavi würde überleben und wieder vollständig genesen.
Die dama’ting , die sie zu dem Gebäude geführt hatten, tuschelten untereinander, während sie operierte, und beobachteten Leesha mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen. Sie spürte, dass sie ihr ihre Einmischung übelnahmen, vor allen Dingen, weil sie in der Nacht das Heft in die Hand genommen hatte. Ihre geschnauzten Befehle kamen nicht gut an, doch ihr Übersetzer war
Jardir höchstpersönlich, und keine der weiß gekleideten Frauen hätte es gewagt, sich dem Shar’Dama Ka zu widersetzen. Wonda und Gared hatten draußen bleiben müssen, ebenso Rojer und Jardirs Leibwachen.
Die dama’ting , die sich benahmen wie Gefangene in ihrem eigenen Haus, atmeten auf und ihre Erleichterung war beinahe greifbar, als Inevera in das Operationszimmer stürmte. Mit wutverzerrtem Gesicht stapfte sie direkt zu Leesha und stellte sich so dicht vor sie, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten.
»Wie konntest du es wagen?«, fauchte Inevera. Sie sprach Thesanisch mit starkem Akzent, war aber deutlich zu verstehen. Parfümduft umhüllte sie wie eine Wolke, und ihre freizügige Kleidung erinnerte Leesha unangenehm an ihre Mutter.
»Was wirfst du mir vor?«, fragte Leesha,
Weitere Kostenlose Bücher