Das Flüstern der Nacht
verschmiert, aber mit dem Daumen konnte sie die eingeritzten Siegel fühlen. Hastig steckte sie ihn in eine Tasche, um sich später eingehend damit zu beschäftigen.
Inzwischen war Inevera wieder auf den Füßen und griff Leesha an; Leesha rappelte sich auf und zielte mit dem Messer auf die Damajah . Inevera hielt inne und begann, Leesha in lauernder Stellung zu umkreisen. Mit einem Ruck zog sie eine gekrümmte Klinge aus ihrem Gürtel, deren mit Siegel verzierte Schneide genauso scharf war wie Leeshas Skalpelle.
Leesha schob eine Hand in eine andere Tasche ihrer Schürze und Inevera griff in den schwarzen Samtbeutel, der an ihrer Taille baumelte.
Vergnügt sah der Horcling-Prinz dem Treiben zu, als die Weibchen sich aufführten wie Hochprinzen, wenn die Königin sich auf die Paarung vorbereitete. Er hatte vorgehabt, sich den Geist des Weibchens aus dem Norden einzuverleiben und es durch seinen
Mimikry zu ersetzen, um in die Nähe des Erben zu gelangen und ihn zu töten; doch die Taktik, auf die die weiblichen Drohnen zurückgriffen, war viel köstlicher. Es stand in ihrer Macht, sehr schnell den Geist des Erben zu brechen und seinen Traum von Einheit zu zerstören.
Alles, was sie brauchten, war ein kleiner Anstoß.
32
Die Entscheidung eines Dämons
333 NR - Sommer
E s war die finsterste Stunde der Nacht, als Jardir endlich in sei nen Palast zurückkehrte. Er fühlte sich nicht müde; seit er angefangen hatte, mit dem Speer des Kaji zu kämpfen, hatte er keine wirkliche körperliche Erschöpfung mehr verspürt, trotzdem sehnte er sich nach seinem Bett, und sei es auch nur, um die Gelegenheit zu haben, die Augen zu schließen und von ihr zu träumen; es war eine angenehme Weise, die Zeit zu vertreiben, ehe er sie wieder besuchen ging.
Leesha Papiermacher war ein echtes Geschenk von Everam. Dass sie seinen Antrag annahm, schien so gut wie sicher zu sein, und damit konnte er im Nordland Fuß fassen. Aber er merkte, dass ihm dieser Umstand nun weniger wichtig war als die Vorstellung, sie ständig an seiner Seite zu haben. Sie war klug, wunderschön und jung genug, um ihm viele Söhne zu schenken; außerdem war sie sehr leidenschaftlich, das bewies sie, wenn sie zornig war und wenn sie liebte. Eine würdige Braut selbst für den Erlöser, und ein wertvolles Bollwerk gegen die wachsende Macht der Damajah . Inevera würde natürlich versuchen, diesen Ehebund zu hintertreiben, aber darüber wollte er sich erst später Sorgen machen.
Als Jardir sah, dass in seinen Gemächern Licht brannte, runzelte er die Stirn. Everams Füllhorn hatte keine Untere Stadt für
Frauen und Kinder, in die sie sich vor allen Dingen während der Phase des Schwarzen Mondes zurückziehen konnten. Stattdessen wechselten seine Gemahlinnen sich ab, ihn in seinen privaten Gemächern mit einem Bad und einem willigen Körper zu erwarten, aber Jardir stand nicht der Sinn danach, sich von irgendeiner beliebigen Frau verwöhnen zu lassen, weder mit einem Bad noch in den Kissen. Seine Lust konnte nur eine Einzige befriedigen, und unter seinen Gewändern haftete ihr Duft noch auf seiner Haut. Er wollte ihn noch eine Weile an sich behalten.
»Ich wünsche nichts«, erklärte er beim Eintreten. »Ich will nur allein sein.«
Aber die Frauen in seinen Räumen waren keine Nebengemahlinnen, und sie hatten nicht vor, sich zu entfernen.
»Wir müssen reden«, erklärte Leesha, und Inevera neben ihr nickte.
»Ausnahmsweise stimme ich mit der Hure aus dem Norden überein«, erklärte sie.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, doch Jardir kam es vor, als dauerte die Stille viele Minuten lang an, während er sich bemühte, diese neue Entwicklung zu akzeptieren und sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
Er musterte die beiden Frauen. Ihre Kleidung war zerrissen. Um Ineveras Bein war ein blutdurchtränktes Tuch gebunden, und Leeshas Schulter trug einen ähnlich improvisierten Verband. Ineveras Nase stand schief und war zum dreifachen ihrer normalen Größe angeschwollen. Leeshas Hals wies Blutergüsse und blaue Flecken auf, und beim Gehen zog sie ein Bein nach.
»Was ist passiert?«, fragte Jardir.
»Deine Erste Gemahlin und ich haben uns unterhalten«, antwortete Leesha.
»Und wir sind übereingekommen, dass wir dich nicht teilen wollen«, ergänzte Inevera.
Jardir wollte zu ihnen gehen, aber Leesha hielt einen Finger in die Höhe und er blieb stehen, als sei er ein kleines Kind. »Du hältst Abstand. Vorläufig wirst du keine von uns
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