Das Flüstern der Nacht
bemerkte, wie Damaji Kevera von den Sharach sich verspannte, aber er war sich nicht sicher, ob vor Scham, weil der »übliche« Platz seines Stammes so unrühmlich war, oder ob die plötzliche Veränderung ihn stutzig machte.
Sein Blick wanderte über die Damaji’ting , doch deren Gesichter konnte er nicht sehen, und er hatte keine Ahnung, welche von ihnen dem Stamm der Sharach angehörte. Es war ohnehin nicht von Belang, denn keine von ihnen zeigte auch nur die geringste Reaktion auf seine Worte.
»Die Männer der Sharach sind tapfere Krieger«, sprach er weiter. »Sie fügten sich dieser Anordnung voller Stolz. Aber die Sharach schicken nicht viele Krieger in den alagai’sharak . Selbst wenn jeder Einzelne von ihnen für zwei kämpfen würde«, er sah Kevera an, »und das tun sie, fehlt es ihnen an Kriegern, um einen Hinterhalt in der vierten Ebene voll zu besetzen.«
Der Sharach- Damaji nickte, und Jardir durchlief eine Welle der Erleichterung.
»Und wie habt ihr euch verhalten?«
Jardir zuckte die Achseln. »Der Sharum Ka gab einen Befehl, und wir gehorchten.«
»Lügner!«, brüllte der Sharum Ka . »Ihr habt eure Stellung verlassen, du Sohn von Kamelpisse!«
Die Beleidigung, die kein Mann mehr zu äußern gewagt hatte, seit Hasik von ihm besiegt worden war, traf Jardir bis ins Mark. Den Bruchteil einer Sekunde lang spielte er mit dem Gedanken, quer durch den Raum zu stürzen und den Mann auf der Stelle zu töten, obwohl ihm das wahrscheinlich einen schnellen Tod durch Leibwachen des Andrah eingebracht hätte.
Stattdessen ließ er die Schmähung von sich abgleiten, und zurück blieb eine kalte, stille Wut.
»Die halbe Nacht verbrachten wir in der zehnten Ebene«, fuhr Jardir fort und gab nicht einmal durch eine Wendung des Kopfes zu erkennen, dass er die Kränkung gehört hatte. »Die Aufpasser entdeckten weder in unserer noch in der neunten oder achten Ebene einen alagai . Trotzdem harrten wir auf unserem Posten aus.«
»Lügner!«, donnerte der Sharum Ka erneut.
Dieses Mal drehte Jardir sich um und sah ihn an. »Warst du dabei, Erster Krieger, dass du die Wahrhaftigkeit meiner Worte abstreiten kannst? Warst du überhaupt im Labyrinth?« Vor Verblüffung weiteten sich die Augen des Sharum Ka , dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse.
Jardirs berechtigte Frage traf ihn härter als jeder Faustschlag.
Der Sharum Ka öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber mit einem Zischen brachte der Andrah ihn zum Schweigen. Alle Blicke richteten sich auf den Mann.
»Bleib ruhig, mein Freund«, ermahnte der Andrah den Sharum Ka . »Lass ihn zu Ende erzählen. Du hast das letzte Wort.«
In diesem Moment wurde Jardir bewusst, wie nahe sich diese beiden Männer standen, und wie viel sie gemeinsam hatten. Beide wohnten seit fast vier Jahrzehnten in ihren jeweiligen Palästen. Insgeheim hatte Jardir gehofft, dem Andrah sei immer noch an einem starken Sharum Ka gelegen, doch wenn er diese aufgedunsene Gestalt betrachtete, kamen ihm ernsthafte Zweifel. Wenn der Andrah selbst vergessen hatte, was es bedeutete, ein Krieger zu sein, konnte er dann seinen ihm treu ergebenen Sharum Ka für dieselbe Schwäche verurteilen?
»Wir hörten ein Hornsignal, einen Ruf nach Verstärkung«, erzählte Jardir. »Da wir nicht beschäftigt waren, kletterte ich auf die Mauer, um nachzusehen, ob wir helfen könnten. Aber der Ruf kam aus der vierten Ebene, und zwischen uns und den in Bedrängnis geratenen Kriegern wurde an vielen Stellen gekämpft. Ich stand schon im Begriff, wieder ins Labyrinth hinabzusteigen, als der Aufpasser, den ich losgeschickt hatte, mit der Meldung zurückkehrte, die Sharach seien überwältigt worden und würden bald aus dieser Welt scheiden.«
Er legte eine Pause ein. »Jeder dal’Sharum erwartet, im Labyrinth zu sterben. Ob wir in einer Nacht ein Dutzend, zwei Dutzend oder gar hundert Krieger verlieren, was macht es schon aus, wenn wir Everams Werk verrichten?
Doch es ist etwas anderes, ob man einzelne Männer verliert oder einen ganzen Stamm. Welche Ehre hätte es mir eingebracht, wenn ich dem tatenlos zugesehen hätte?«
»Aber du sagst doch selbst, dass der Weg blockiert war«, bemerkte Amadeveram.
Jardir nickte. »Nun, mein Aufpasser hatte es bis dorthin geschafft, und ich weiß noch, wie meine Männer und ich als nie’Sharum über die Mauerkronen gerannt sind. Ich fragte mich, gibt es etwas, das ein Junge tun kann, ein Mann jedoch nicht? Also liefen wir auf den Mauern
Weitere Kostenlose Bücher