Das Flüstern der Stille
Sinn.“
Martin seufzt. „Es tut mir leid. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wohin sie gegangen sein sollten. Wenn sie nicht … entführt wurden und auch nicht an ihren Lieblingsplätzen sind, scheint mir der Wald die logischste Erklärung. Zumal wenn Calli sich da so gut auskennt.“
Antonia nickt. „Ich wette, Ben wird bald mit zwei kleinlauten Mädels hier sein, die sich schämen, so viel Ärger verursacht zu haben.“
Mir kommt ein Gedanke. „Toni, fehlt eigentlich auch ein Paar von Callis Schuhen?“
„Ich weiß es nicht.“ Toni setzt sich ein wenig gerader hin, das mit Feuchtigkeit beschlagene Teeglas in der Hand. „Ich sehe mal nach.“
Sie steht auf und geht die Treppe hinauf zu Callis Zimmer. Martin nippt an seinem Tee, stellt das Glas hin, dann, unsicher, was er mit seinen Händen tun soll, hebt er das Glas wieder an.
Er und ich sitzen einen Augenblick da, es herrscht eine unbehagliche Stille, dann ergreift er das Wort.
„Ich habe nie verstanden, wie Petra und Calli so gute Freundinnen werden konnten. Sie haben eigentlich nichts gemeinsam. Das Mädchen spricht ja nicht einmal. Was um alles in der Welt können zwei Siebenjährige miteinander unternehmen, wenn nur eine von ihnen spricht?“ Er schaut mich erschöpft an. „Petra sagt dann immer: ‘Können Calli und ich ein Sandwich haben? Für Calli nur Erdnussbutter, sie mag keine Marmelade.’ Ich meine, woher weiß sie das, wenn Calli nicht spricht? Ich verstehe es einfach nicht.“ Er schüttelt den Kopf.
„Verwandte Seelen“, ertönt eine sanfte Stimme aus dem Flur. Toni betritt die Küche und hält in einer Hand ein paar abgenutzte Turnschuhe, in der anderen ebenfalls gebraucht aussehende Flip-Flops. „Sie sind verwandte Seelen“, wiederholt sie auf unsere fragenden Blicke. „Sie wissen, was die jeweils andere braucht. Petra kann Calli lesen wie ein Buch. Was sie spielen möchte, ob ihre Gefühle verletzt wurden, alles. Und Calli ist genauso. Sie weiß, dass Petra Angst vor Gewitter hat, und stellt die Musik so laut, dass sie das Donnern übertönt. Oder wenn Petra traurig ist, kann Calli sie wieder zum Kichern bringen. Calli kann die schönsten Grimassen ziehen – sie kann alle von uns zum Lachen bringen. Sie sind beste Freunde. Ich kann nicht erklären, wie es funktioniert, aber das tut es. Für sie. Und ich bin froh darüber. Petra macht es nichts aus, dass Calli nicht spricht, und Calli macht es nichts aus, dass Petra Angst vor Donner hat und manchmal noch am Daumen lutscht.“ Toni macht eine Pause und hält die Schuhe hoch. „Ihre Schuhe sind noch da. Wir wollen nächste Woche neue Schuhe für die Schule kaufen. Ihre Cowboystiefel habe ich vorhin in der Garage stehen sehen. Calli hat also keine Schuhe an. Aber sie würde nicht ohne Schuhe in den Wald gehen.“
Tonis Kinn beginnt zu zittern, und zum ersten Mal, seit ihre Tochter verschwunden ist, sieht sie ängstlich aus. Ich lege meine Hand auf ihren Arm, und sie zieht ihn nicht weg.
Ben
Ich war an allen Plätzen, wo wir immer gespielt haben. Zuerst am Willow Wallow, wo wir uns in den Weiden von Ast zu Ast schwingen und so tun, als seien wir Affen. Ich habe unter jeder der sieben Weiden nachgeschaut, habe gedacht, dass ich dich und Petra versteckt unter einer von ihnen finden würde. Ich bin zur Lone Tree Bridge hinuntergegangen, dem schmalen Baumstamm, der über den Willow Creek gefallen ist. Hier haben wir immer abwechselnd versucht, wer ihn schneller überqueren kann. Ich habe jedes Mal gewonnen. Hier warst du auch nicht. Ich bin den Spring Peeper Pond Trail mehrmals auf und ab gegangen, sicher, euch dort nach Baumfröschen Ausschau haltend zu finden. Aber damit habe ich auch falschgelegen. Ich will nicht ohne euch zurückkommen.
Langsam denke ich, dass Dad euch vielleicht doch mit zum Angeln genommen hat. Das wäre typisch für ihn, plötzlich Vater zu spielen und Zeit mit dir verbringen zu wollen. Er konnte uns wochenlang ignorieren, um uns dann von jetzt auf gleich total interessiert anzuschauen und mit uns irgendetwas wirklich Lustiges zu unternehmen. Einmal hat er mich mit zum Angeln am Bach genommen. Wir sind abends losgegangen, nur er und ich. Wir hatten keine Regenwürmer dabei, also haben wir einfach etwas Frischkäse aus dem Kühlschrank gemopst und als Köder verwendet. Stundenlang haben wir am Ufer gesessen, da, wo der Bach am breitesten ist. Wir haben nicht viel geredet, nur nach Mücken geschlagen und Groppen und Sonnenbarsche herausgezogen und
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