Das Flüstern der Stille
starker, lieber Ben. Er rief nach ihr. Sie versuchte, ihm zu sagen, dass sie durstig war, so durstig, aber es kamen keine Worte. Er schien es jedoch zu wissen, Ben schien es immer zu wissen, und er tauchte die Hände ins Wasser und holte sie wie eine Kelle gefüllt mit Wasser wieder heraus. Trotzdem gelang es Calli nicht, zu ihm hinunterzuschweben, aber er spritzte das Wasser in die Luft, und sie fing einen Tropfen mit ihrer Zunge. Es war kalt und süß. Calli streckte die Hände nach ihrem Bruder aus, aber es war, als sei sie mit Helium gefüllt, und sie stieg höher und höher, bis über die Baumwipfel hinaus. Ben wurde immer kleiner und verschwand schließlich, seine Haare wehten wie eine rote Flagge unter ihr. Sie stieg weiter hinauf. Die Temperatur stieg im gleichen Maße, wie sie an Höhe gewann, bis sie schließlich in die Sonne stürzte.
Erschrocken wachte Calli auf, einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war. Sie setzte sich auf und versuchte, ihre aufgesprungenen Lippen zu befeuchten, aber ihre Zunge war dick und schwer und ganz ausgetrocknet. Ihr Traum war in dem Moment verschwunden, als sie sich wachgeblinzelt hatte, aber er hinterließ das tröstliche Gefühl, dass Ben in der Nähe war. Langsam stand sie auf, die Muskeln verspannt, die Füße wund. Nach unten, entschied sie, in Richtung Wasser. Langsam begann sie den Abstieg von dem Felsvorsprung in die Richtung, in der sie den Bach vermutete. Als sie vorsichtig den Weg entlangging, abgebrochene Äste und kleine Steine vermied, erinnerte Calli sich an Bruchstücke aus ihrem Traum und an das Bild von ihrem Schulpsychologen, Mr. Wilson, wie er ein Notizbuch in der Hand hielt und auf etwas darin zeigte.
Bei ihrem ersten Treffen hatte Mr. Wilson, ein großer, dünner Mann mit schneeweißem Haar und einer langen Nase, sie eingeladen, sich neben ihn an den runden Tisch im Beratungszimmer zu setzen. Vor ihnen lag ein schwarzes Notizbuch mit rauem Papier, aus dem kleine Fasern herausstachen. Das Buch wurde von einem weißen, seidigen Band zusammengehalten. Calli fand, dass es ein wunderschönes Buch war, und sehnte sich danach, durch die Seiten zu blättern und zu schauen, was darin stand. Neben dem Notizbuch lag eine brandneue Schachtel mit bunter Kreide. Nicht die dicke, die es nur in vier Farben gab und mit der man auf dem Bürgersteig malte, sondern richtige Künstlerkreide in bunten, schönen Farben. Es kribbelte ihr in den Fingern, die Schachtel zu öffnen.
„Wusstest du, Calli“, hatte Mr. Wilson angefangen, „dass einige der besten Unterhaltungen zwischen Menschen nicht mit Worten geführt werden?“ Er machte eine Pause, als ob er eine Antwort von Calli erwarte.
Sofort war Calli auf der Hut. Die Beraterin im letzten Jahr, Mrs. Hereau, eine mausartige Frau, die ausschließlich weite Kleidung in Grau und Kaki trug, hatte auch immer auf eine Antwort von Calli gewartet. Sie hatte sie ihr jedoch nie gegeben.
„Calli, ich werde nicht versuchen, dich zum Reden zu bringen“, sagte Mr. Wilson, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. Mit dem ausgestreckten Finger rieb er über seine lange Nase und schaute ihr direkt in die Augen. Mrs. Hereau hatte Calli niemals ins Gesicht gesehen, immer nur mit ihr gesprochen, während sie sich gleichzeitig Notizen machte. Mr. Wilsons direkte Art machte Calli ein bisschen nervös.
„Ich möchte dich jedoch kennenlernen“, fuhr er fort. „Das ist mein Beruf. Zu versuchen, die Schüler besser kennenzulernen und ihnen zu helfen, wenn ich kann. Oh, schau mich nicht so argwöhnisch an, Calli“, lächelte Mr. Wilson. „Reden wird vollkommen überschätzt. Bla, bla, bla. Den ganzen Tag höre ich Leuten beim Reden zu! Dann komme ich nach Hause und meine Frau redet, meine Kinder, mein Hund …“ Er warf Calli einen Seitenblick zu, die mit krauser Nase lächelte, als sie sich vorstellte, wie Mr. Wilson einem schwarzen Labrador oder Schäferhund zuhörte, der an seinem Küchentisch saß und von seinem Tag erzählte.
„Na gut, mein Hund redet nicht , aber alle anderen. Also wird das Schweigen sehr gut für mich sein. Ich dachte“, sagte er und streckte seine Beine unter dem Tisch aus, „dass wir einander in diesem Buch schreiben. So wie Brieffreunde, aber ohne Briefumschläge oder Marken. Unsere Unterhaltungen könnten genau hier drin sein.“ Er klopfte mit einem Finger auf das Buch. „Was meinst du, Calli? Nein, nicht antworten. Denk darüber nach, verziere den Einband, was auch immer. Ich werde einfach da
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