Das Flüstern der Stille
Weile auf, sagten, dass ich suspendiert werden sollte oder Ähnliches, aber dazu kam es nicht. Schade eigentlich.
In der nächsten Woche fingen mich Meechum und seine Kumpels nach der Schule ab und schubsten mich ein bisschen herum, nannten Mom eine Hure, sagten, sie würde es mit dem Sheriff treiben. An dem Tag bin ich einfach davongegangen. Aber später, als ich Meechum allein traf, hab ich mich von hinten an ihn herangeschlichen, ihm den Arm auf den Rücken gedreht und ihm gesagt, dass ich ihn umbringen werde, wenn er jemals wieder auch nur ein Wort über meine Familie verliert. Meechum hat es natürlich gleich seiner Mutter erzählt, und sie hat die Schule und die Polizei informiert. Ein erneutes Treffen wurde einberufen, aber ich habe alles geleugnet, und sie konnten mir nichts beweisen. Mrs. Meechum sagte irgendwas davon, dass ich genauso sei wie mein verkommener Vater, und Junge, da ist Mom aber durchs Dach gegangen. Aber der Schaden war angerichtet. Danach haben mich alle immer ein bisschen anders angesehen. Ich war nicht mehr der Stille .
Calli, ich habe niemals jemandem wehgetan. Ich bin nicht wie Dad, wirklich nicht. Ich würde dir nie etwas antun. Ich werde dich finden, und wenn ich die ganze Nacht dafür brauche. Ich bringe dich nach Hause, und dann werden sie es wissen.
Calli
Calli schlief unruhig. Der Boden war hart und unnachgiebig. Mücken umschwirrten sie, und obwohl sie versucht hatte, ihre Beine unter das Nachthemd zu ziehen, stachen sie sie in Fußgelenke und Unterarme.
Sie träumte zeitweise davon, zwischen den Zweigen der Bäume zu fliegen. Sie fühlte die kühle Luft auf ihrer Stirn und das angenehme Gefühl in ihrem Magen, das mit dem Fliegen einherging und ihr von der kleinen Achterbahn auf der Kirmes vertraut war. Unter sich sah sie den Bach, kühl und verlockend; sie versuchte, ihren Körper zum Wasser zu steuern, damit sie hineintauchen konnte. Aber es funktionierte nicht. Sie stieg weiter empor, folgte dem gewundenen Lauf des Flusses. Sie erhaschte einen Blick auf das feurige Haar ihres Vaters, und ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. Er schaute zu ihr hinauf, die Wut hatte sich in sein Gesicht gefressen. Schnell flog sie über ihn hinweg und sah das hasenohrige Rehkitz trinkend am Ufer stehen. Seine sanften Augen riefen sie stumm, und Calli ließ sich nach unten gleiten und schwebte nur wenige Zentimeter über ihm. Sie streckte die Hand aus, um sein Fell zu streicheln, aber es flitzte davon und in den Wald. Calli versuchte, ihm zu folgen, sein als Warnung erhobener weißer Schwanz zeigte ihr den Weg. Wild sprang es zwischen den Tannen und Kastanien hin und her. Calli konzentrierte sich darauf, mit ihm Schritt zu halten. Eine Hand kam von hinten und versuchte, sie zu fassen, erwischte aber nur den Saum ihres Nachthemds. Über ihre Schulter zurückblickend sah Calli, dass es Petra war, die ihr fröhlich nachwinkte. Eine andere Hand schloss sich kurz um ihren Arm, und ihre Mutter lächelte zu ihr herauf. Callis Flug wurde langsamer, aber sie hielt nicht an, und sie erhaschte einen kurzen Blick auf den verletzten, verwirrten Gesichtsausdruck ihrer Mutter, als sie weiterflog. Dann war der Wald auf einmal voller Leute, die sie kannte; auf freundliche Art versuchten sie, nach ihr zu greifen, wie Kinder, die Seifenblasen fangen. Da war Mrs. White, die Schulkrankenschwester, und ihre Kindergärtnerin, und Mrs. Vega, die Lehrerin aus ihrer ersten Klasse, die sie so gernhatte. Mr. Wilson, der Schulpsychologe, hielt ihr geöffnetes Notizbuch in der Hand, zeigte auf irgendetwas, aber sie konnte nicht sehen, auf was. Worauf zeigte er? Sie wollte es so gern wissen. Sie versuchte, ihren Körper dazu zu bringen, in Richtung von Mr. Wilson zu fliegen, um in das Buch zu schauen, aber sie konnte nicht, sie flog einfach weiter. Da waren Mrs. Norland, Deputy Sheriff Louis, Mr. und Mrs. Gregory, Jake Moon, Lena Hill, die Bibliothekarin – alle streckten die Hände nach ihr aus. Sie schaute sich suchend nach Ben um, aber sie konnte ihn nicht entdecken. Jetzt griffen Menschen nach ihr, die sie nicht kannte, und das machte ihr Angst. Sie versuchte, mit den Füßen zu treten und mit den Armen nach oben zu rudern, und weiter flog sie, folgte ihrem Rehlein. Bald kam sie an eine wunderschöne Lichtung. Bäume umrahmten eine schmale, grüne Wiese. Ein kleiner Teich lag in der Mitte, und das Rehkitz hielt an, um zu trinken. Sie war auch so durstig, aber sie konnte nicht landen. Auf einmal war Ben da. Großer,
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