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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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entwachsen“, sagte sie bestimmt.
    „Nein“, beharrte ich. „Ich werde dir niemals entwachsen.“
    „Alles, was ich jemals wollte, war, in einem gelben Haus zu wohnen“, sagte sie sanft, bevor sie davonging und mich allein unter den nackten Bäumen stehen ließ. Noch lange, nachdem sie außer Sicht war, konnte ich das Rascheln der trockenen Blätter unter ihren Schuhen hören. Für einen guten Monat versuchten wir, so weiterzumachen wie zuvor, aber irgendetwas hatte sich verändert. Sie zuckte vor meinen Berührungen zurück, als ob das Gefühl meiner Hand auf ihrer Haut sie irgendwie verletzte. Sie wurde ungewohnt still, wenn ich über das College sprach, und wenn ich versuchte, sie zu lieben, fiel ein Schatten über ihr Gesicht. Ich war noch nicht fort, aber sie hatte mich schon verlassen.
    Anfang Dezember machte sie mit mir Schluss, und ab da war es, als würde ich nicht mehr existieren. Sie nahm meine Anrufe nicht entgegen, öffnete nicht, wenn ich an der Tür klopfte, ging auf den Fluren der Schule ohne einen Blick an mir vorbei. Schließlich fing ich sie in den Willow Creek Woods ab. Sie ging langsam, mit gesenktem Kopf, den Blick auf den Weg vor sich gerichtet. Es schneite in unglaublich dicken Flocken. Kurz überlegte ich, sie mit einem Schneeball zu bewerfen. Ich war ziemlich sauer auf sie. Aber ich tat es nicht. Irgendetwas an der Art, wie sie da so allein ging, ließ sie nackt und verletzlich wie die riesigen, kahlen Bäume aussehen. „Toni“, rief ich leise, um sie nicht zu erschrecken. Sie schnellte herum, die Hände an die Brust gepresst. Als sie mich sah, ließ sie die Hände fallen, zu Fäusten geballt, als wappne sie sich für einen Kampf. „Hey“, sagte ich. Sie antwortet nicht. „Können wir reden?“
    „Da gibt es nichts zu reden“, erwiderte sie. Ihre Stimme war so kalt wie die Luft um uns herum.
    „Willst du das wirklich tun?“, fragte ich.
    „Was?“ Sie tat so, als wüsste sie nicht, was ich meinte.
    „Das!“ Meine Stimme hallte zwischen den Bäumen wider. Toni machte einen Schritt auf mich zu und hielt dann inne, als ob sie ihre Meinung ändern könnte, wenn sie mir zu nahe käme.
    „Lou“, sagte sie entschlossen. „Monatelang habe ich meine Mutter sterben sehen …“
    „Ich weiß“, sagte ich. „Ich war da, erinnerst du dich?“
    „Nein, du warst nicht da. Nicht wirklich. Monatelang habe ich meine Mutter sterben sehen. Es gab nichts, gar nichts, was ich hätte tun können, damit es ihr besser geht, damit sie leben konnte. Jetzt verliere ich meinen Dad. Auf vollkommen andere Art, aber in der Minute, in der ich meinen Schulabschluss in der Hand habe, ist er fort. Für immer weg. Er kann den Gedanken nicht ertragen, ohne meine Mutter hier in Willow Creek zu leben. So will ich nicht enden. Niemals!“ Sie schaute mich grimmig an.
    „Das ist nicht das Gleiche“, versuchte ich zu argumentieren.
    „Es ist genau das Gleiche“, schoss sie zurück. „Du wirst weggehen, und das ist okay, was immer du willst. Aber ich werde nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, auf dich zu warten. Ich habe sowieso schon viel zu viel Zeit für dich aufgewendet.“
    „Was soll das denn heißen?“, fragte ich wütend zurück. „Dass ich reine Zeitverschwendung bin?“
    „Das heißt nur, dass ich nicht eine Minute mehr in jemanden investieren werde, der nicht hierbleibt, der mich nicht genug liebt, um zu bleiben. Lass mich einfach in Ruhe!“ Damit drehte sie sich um und ging geräuschlos durch den Wald. Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich tat es. In dem Moment hasste ich sie. Ich beugte mich vor, kratzte eine Handvoll nassen Schnee zusammen, formte einen perfekten Ball. Ich warf ihn nicht sehr hart, aber in der letzten Sekunde wandte sie sich um, um mir noch etwas zu sagen, und der Schneeball traf sie mitten ins Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb sie wie erstarrt stehen, dann drehte sie sich um und rannte los. Ich versuchte, ihr nachzulaufen, mich zu entschuldigen, aber sie kannte den Wald besser als jeder andere, und außerdem war sie schneller als ich. Ich habe sie nie eingeholt, ihr nie gesagt, dass es mir leidtut. Und ich habe nie herausgefunden, was sie mir sagen wollte, bevor der Schneeball sie traf.
    Am Ende ist sie mir entwachsen – oder vielleicht doch ich ihr, nehme ich an. Ich begann, wie der letzte Depp dazustehen. Jeder wusste, dass ich Antonia liebte und dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Im folgenden Jahr heiratete sie Griff,

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