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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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bei einem mittelalten Mann, der zu viel Zeit mit Trinken und Gemeinheiten zugebracht hat, sitzt die Zeit wie eine Halloween-Maske auf seinem Gesicht.
    Er greift mich erneut an, dieses Mal besser vorbereitet. Er schwingt seinen rechten Arm, als ob er ihn mir an den Kopf hauen will, aber springt mich dann tiefer an, trifft mich direkt in den Magen und landet auf mir. Die Luft wird mir aus den Lungen gepresst. Ich versuche einzuatmen, aber ich kann nicht und kämpfe wie wild, um ihn von mir herunterzubekommen. Ich schlage auf seinen Rücken, in sein Gesicht, ziehe sogar an seinen Haaren, wie ich peinlicherweise zugeben muss, alles, um ihn von mir runterzukriegen, damit ich wieder atmen kann. Er versucht, meine Arme über meinen Kopf auf den Boden zu drücken, aber ich winde mich wie ein Verrückter, und er kriegt mich nicht zu fassen.
    „Ben, verdammt noch mal, hör jetzt auf. Halt still!“, ruft er.
    Aber das tue ich nicht. Ich kann wieder atmen, und nach einem Augenblick merke ich, dass er versucht, von mir runterzukommen, aber ich lasse ihn nicht. Er versucht, mir zu entkommen. Er versucht, über mich wegzukrabbeln, aber ich umklammere eines seiner Beine und halte es mit aller Kraft fest. Er steht auf einem Bein und zieht mich mit sich, aber wie ich schon sagte, bin ich inzwischen ziemlich groß, und er kommt nicht sehr weit. Er fällt auf seinen Hintern. Das reicht, damit ich meinen Griff ein bisschen lockere. Er zieht seinen Fuß zurück und tritt nach mir, trifft mit voller Wucht meine Nase. Ich glaube, wir hören sie beide brechen. Ich sehe keine Sterne, wie in den Zeichentrickfilmen am Sonntagmorgen, aber ich sehe etwas, das aussieht wie Glühwürmchen, die vor meinen Augen aufblitzen. Für eine Sekunde erstarren wir beide, ich glaube wirklich, dass er nicht fassen kann, mir so etwas angetan zu haben, und ich kann es auch nicht, obwohl er mich weiß Gott oft genug geschlagen hat. Blut rauscht aus meiner Nase, und es fühlt sich an, als habe sie jemand mit einer Zange abgekniffen.
    „Verdammt, Ben“, sagt er. „Warum hast du das gemacht?“
    Er meint es genau so; es ist mein Fehler, ich habe mir die Nase selber gebrochen. Ich habe noch nie zuvor den Wunsch gehabt, jemanden umzubringen, nicht einmal Meechum. Aber im Moment könnte ich meinen eigenen Vater töten, gleich hier im Wald. Stattdessen dresche ich ihm meine blutige Faust gegen die Schläfe.
    „Ich weiß, dass du glaubst, ich hätte etwas hiermit zu tun, aber das stimmt nicht. Ich war es wirklich nicht, Ben.“ Er versucht, vernünftig mit mir zu reden, während er meine Schläge abblockt.
    „Ich glaube dir nicht. Ich werde es allen erzählen. Ich werde sagen, was du mit Petra und Calli gemacht hast!“ Meine Hände sind glitschig vom Blut, und meine Schläge gleiten nutzlos an ihm ab. Er krabbelt von mir weg. Ich setze ihm nicht nach, aber ich stehe auf und wische meine blutigen Hände an meiner Hose ab.
    „Ben“, keucht er. „Willst du, dass ich ins Gefängnis komme? Du willst, dass ich für etwas weggesperrt werde, was ich nicht getan habe? Denn genau das wird passieren. Sie werden mich wegsperren, vermutlich für immer.“ Er reibt sich über das Gesicht; ich sehe, dass seine Hände zittern. „Jesus, Ben. Ich glaube, Petra stirbt. Wir müssen ihr helfen.“
    „Calli wird Hilfe holen. Sie ist bestimmt schon im Tal. Sie wird Hilfe herbringen“, beharre ich.
    „Verdammt, Ben, sie hat seit vier verdammten Jahren nicht gesprochen! Glaubst du, dass sie damit ausgerechnet jetzt anfängt? Wie soll sie erzählen, was passiert ist?“
    Ich antworte ihm nicht. Ich bin zu fertig, und meine Nase tut weh, aber ich beobachte ihn wachsam aus meinen geschwollenen Augen.
    Ich erinnere mich. Als ich fünf war, dachte ich, mein Vater sei der größte, stärkste Mann im Ort. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt, wenn er zu Hause war, drückte mich neben ihn, wenn er in seinem Lieblingssessel saß. Ich beobachtete jede seiner Bewegungen, wie er die Hände in die vorderen Hosentaschen steckte, wenn er mit einem seiner Freunde sprach, wie er die Bierdose in der rechten Hand hielt und sie mit der linken öffnete. Ich schaute genau hin, wie er die Augen schloss, einen großen Schluck Bier nahm und ihn in seinem Mund herumrollte, bevor er ihn hinunterschluckte. Ich war überrascht, wie viel Vergnügen sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wenn er Bier trank. Wie wir alle – Mom, Baby Calli und ich – anscheinend zu verschwinden schienen, wenn Dad trank.
    Während

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