Das Flüstern der Stille
und ich kenne Griff, er findet Kinder einfach nicht interessant genug, um Zeit damit zu verschwenden, wütend auf sie zu sein. Außerdem lagen heute Morgen viel weniger Bierdosen herum als üblich, also ist er noch weit entfernt von seiner miesen Stimmung, in die ihn der Alkohol sonst bringt. Wenn er bereits das fiese Stadium erreicht hätte, wäre ich jetzt weitaus besorgter.
Louis hat nicht zurückgerufen. Ich weiß, dass er mit anderen Aspekten des Falls beschäftigt ist und seinen sonstigen Pflichten nachgehen muss, aber es überrascht mich, dass er nicht hier ist. Louis war immer für mich da, außer als er weggegangen ist aufs College. Sogar ich weiß, dass es zu viel verlangt war, ihn zu bitten zu bleiben. Louis war da, als ein Rüpel aus der fünften Klasse mich terrorisiert hat, als ich neun war. Er war da, als ich vor meiner Rede im Literaturkurs in der zehnten Klasse eine Panikattacke hatte. Und er war da, als meine Mutter starb.
Obwohl meine Mutter und ich so unterschiedlich waren, so wenig Gemeinsamkeiten hatten, wusste Louis, dass ihr Verlust das Schlimmste war, was mir je passiert ist. Er wusste, dass die Stunden, in denen mein Vater und ich sie gepflegt haben, als sie bettlägerig war und vom Brustkrebs zerfressen wurde, einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen haben. Louis hat mich immer zur Bibliothek gefahren, damit ich die Bücher holen konnte, die ich meiner Mutter vorlesen sollte, während die Morphiumpumpe ihre Schmerzen einigermaßen erträglich machte.
Meine Mutter war schon immer eine Leseratte gewesen. Ich mochte Bücher, aber ich hatte einfach keine Zeit zum Lesen. Zwischen Schule, der Arbeit an der Tankstelle und meinen Verabredungen mit Louis habe ich nie die Anstrengung unternommen zu lesen. Meine Mutter legte mir immer Bücher auf den Nachttisch, in der Hoffnung, dass ich eins davon zur Hand nehmen und danach ein wundervolles Gespräch mit ihr führen würde. Ich hab es aber nie getan, erst als sie krank wurde. Dann, mehr aus Schuldgefühl, fing ich an, ihr vorzulesen. Eines Tages, kurz vor ihrem Ende, bat mich meine Mutter, ihre alte Ausgabe von Meine Antonia von Willa Cather zu suchen. Ich hatte das Buch schon mal gesehen; meine Mutter hat es mir oft auf den Nachttisch gelegt, aber ich habe mir nie die Zeit genommen, es zu lesen, auch wenn ich meinen Namen diesem Lieblingsbuch meiner Mutter verdanke. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich mit dieser Antonia aus Willa Cathers lange vergangener Welt gemeinsam haben sollte. Aber auf die Bitte meiner Mutter hin fing ich an zu lesen. Widerwillig stolperte ich in das Nebraska der Jahrhundertwende, aber was ich dort fand, gefiel mir außerordentlich. Louis saß oft bei uns, wenn ich meiner Mutter vorlas. Anfangs war ich so unsicher, nicht an den Klang meiner Stimme gewöhnt, aber ihm schien es zu gefallen, und meine Mutter hatte oft ein mattes Lächeln im Gesicht, wenn ich las.
Eines Nachmittags, ungefähr drei Wochen bevor sie starb, klopfte meine Mutter mit der Hand auf die Matratze ihres Krankenhausbetts, das wir geholt hatten, als wir ahnten, dass es mit ihr zu Ende gehen würde. Ich ließ das Metallgitter an der Seite herunter, das meine Mutter am Herausfallen hindern sollte, und setzte mich vorsichtig neben sie.
„Komm näher, Antonia“, sagte sie zu mir. Meine Mutter nannte mich nie Toni, immer Antonia. Ich rutschte näher an sie heran, darauf bedacht, nicht an die Schläuche zu kommen, die in ihrem Arm steckten. Es war so schwer, sie so zu sehen. Meine wunderschöne, bezaubernde Mutter, die immer nach Chanel gerochen hatte. Jetzt umgab sie ein anderer Geruch, säuerlich und alt. Ihre Haare, einst ein strahlendes Goldblond, waren nun matt und lagen platt auf ihren Schultern. Ihr Gesicht war weiß und vom Schmerz verzerrt.
„Antonia, meine Antonia“, flüsterte sie. Ich liebte es, wenn sie mich so nannte. „Ich wollte dir nur noch ein paar Dinge sagen, bevor … bevor …“ Sie schluckte angestrengt. „Bevor ich sterbe“, schloss sie.
„Mom, sag das nicht“, fiepste ich, und bevor ich es verhindern konnte, strömten die Tränen aus meinen Augen. Wie ich es hasste zu weinen.
„Antonia, ich werde sterben, und zwar bald. Ich habe einfach nicht genügend Zeit mit dir gehabt“, seufzte sie. „Die Jungs, ich denke, sie werden klarkommen, aber du … um dich mach ich mir Sorgen.“
„Ich bin okay, Mom“, schniefte ich und versuchte, meine Tränen vor ihr zu verbergen.
Sie nahm meine Hand in ihre, und ich spielte
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