Das Flüstern der Stille
Griff. „Du weißt ja nicht, was hier passiert ist. Wir müssen hier weg. Vielleicht sollten wir sie tragen“, sagte er mit einem Blick auf Petra. „Aber vielleicht sollten wir sie auch lieber nicht bewegen.“ Unentschlossen biss Griff auf seine Unterlippe. „Wir können sie nicht hierlassen.“ Er schaute Ben an. „Du bleibst hier. Calli und ich gehen Hilfe holen.“
„Nein“, widersprach Ben.
„Was hast du gesagt?“
„Nein, ich lasse dich nirgendwo mit Calli hingehen.“
Ben griff hinter sich nach Calli, wobei er seinen Vater nicht aus den Augen ließ. Als er ihre Hand gefunden hatte, zog er Calli vorsichtig zu sich heran, sodass ihre Wange an seinem Rücken ruhte.
„Ben, dafür haben wir keine Zeit. Ich glaube, dass Petra stirbt. Dann lauf du los und hol Hilfe, ich bleibe hier bei ihr.“
„Nein, Calli geht“, sagte Ben. „Wir beide bleiben bei Petra.“
„Wer hat dich denn zum Chef auserkoren?“, spottete Griff. „Wem soll sie denn was erzählen? Soll sie es pantomimisch darstellen, oder was? Du bleibst. Calli und ich gehen.“ Griff begann, an Ben vorbeizugehen, um sich Calli zu schnappen, aber Ben trat ihm in den Weg.
„Ben, ich schlag dich grün und blau, wenn du mir nicht aus dem Weg gehst. Das hier ist kein Spiel!“ Griff machte einen Schritt an Ben vorbei, aber Ben drängte sich vor ihn.
„Nein. Calli wird runtergehen und Hilfe holen. Ich lass dich nicht allein mit Petra.“
Griff blinzelte. „Was? Glaubst du, ich hätte was damit zu tun?“
Ben sagte nichts. Misstrauisch starrte er seinen Vater an, die seitlich ausgestreckten Arme eine Wand zwischen Griff und Calli.
„Was? Du glaubst wirklich, ich hätte das getan, Ben? Ich bin dein Vater.“
„Ich weiß“, erwiderte Ben und machte ein paar Schritte rückwärts, versuchte, Calli sanft auf den Weg zu drängen, der sie nach Hause bringen würde. „Warum sind sie überhaupt hier oben?“, fragte er und deutete mit einer Geste auf Calli und Petra. „Warum bist du überhaupt hier oben? Du kommst nie hierher.“
Griff schwankte, stammelte, schwieg dann.
„Du bist hier, sie sind hier. Petra ist schwer verletzt, und Calli ist ein Wrack. Was soll ich denn da denken?“
„Denk gar nicht, Ben. Du könntest dir selber wehtun. Und nun geh mir verdammt noch mal aus dem Weg. Komm, Calli, lass uns gehen.“ Griff streckte seinen Arm aus, packte Calli und zog sie mit sich zum Weg.
„Nein!“, rief Ben. „Lass sie los.“ Ben schubste Griff, der überrascht nach hinten stolperte.
Ben drehte sich blitzschnell zu Calli um. Er packte sie an den Schultern und brachte sein Gesicht ganz nah an ihres, sodass sich ihre Nasen beinah berührten. „Lauf, Calli, hol Hilfe. Ich werde mich um Petra kümmern. Lauf. So schnell, wie du kannst. Und sag es ihnen. Sag ihnen, wo wir sind.“
Calli zögerte, aber Griff hatte sich erholt und kam schon wieder auf sie zu. Sie drehte sich um und war im nächsten Moment verschwunden.
Ben
Dad sieht beinah verrückt aus, als er wieder auf die Füße kommt. Was zum Teufel habe ich nur getan?
„Ben, du blöder Hurensohn. Warum hast du das getan? Jetzt ist sie weg. Sobald wir hier raus sind, werde ich dich windelweich prügeln.“
„Ist mir egal“, sage ich und trete ein paar Schritte zur Seite. „Du bleibst so lange mit mir hier, bis die Polizei kommt.“
„Einen Teufel werde ich tun“, lacht er. Er lacht immer über irgendjemanden.
„Nur zu, lach ruhig, ist mir auch egal“, sage ich und klinge wirklich wie ein blöder Hurensohn.
„Bleib bei ihr. Gott weiß, der kranke Scheißkerl, der ihr das angetan hat, versteckt sich vielleicht noch irgendwo hinter einem Baum, aber du bleibst hier, und ich hole Hilfe“, sagt er.
„Nein, du wirst nirgendwo hingehen.“ Ich bleibe standhaft.
„Scheiß was drauf“, sagt Dad, als er auf mich zurennt und mir seine ausgestreckten Arme in die Brust stößt.
Ich glaube, ich habe ihn überrascht, weil ich nicht zusammenklappe und mich wie ein kleines Baby auf dem Boden zusammenrolle. Ich bin diesen Sommer ein ganzes Stück gewachsen und stärker geworden. Er prallt von mir ab wie eine Feder und fällt hintenüber. Er sieht lustig aus mit diesem überraschten Gesichtsausdruck. Ich würde lachen, wenn mich der Blick in seinen Augen nicht zu Tode ängstigen würde.
„Kleiner Scheißer“, flüsterte er, als er sich aufrappelt.
Zum ersten Mal in meinem Leben denke ich, dass mein Vater alt aussieht. Nicht uralt, wie ein Achtzigjähriger, aber müde. Wie
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