Das Flüstern der Toten (German Edition)
gesehen, aber irgendwer muss mitbekommen haben, wie James über den Zaun gestolpert ist, und hat die Polizei verständigt.«
»Ja, sicher«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck siedendheißen Kaffee.
»Bist du alt genug für schwarzen Kaffee?«
Er grinste. In dem Moment sah er alt genug aus, um seinen Kaffee in jeder beliebigen Farbe zu trinken. Seine Augen hatten schon so viel gesehen. Sein Herz kannte bereits so viel Angst und Traurigkeit. Er war in den letzten beiden Jahren vermutlich um zehn Jahre gealtert.
»Wieso bist du zurückgekommen?«, wollte ich wissen.
»Weil ich musste. Ich konnte Onkel Mark doch nicht für etwas in den Knast gehen lassen, das er nicht getan hat.«
»Und wenn du dabei dein Leben riskierst?«, fragte ich stolz und besorgt zugleich.
Er antwortete achselzuckend: »Das tue ich doch schon seit zwei Jahren. Ich hab’s satt, ständig wegzulaufen. Wenn Price mich will, soll er kommen und mich holen.«
Mir wurde es eng in der Brust. Das würde ich auf keinen Fall zulassen. »Wir müssen die Polizei verständigen, ist dir das klar?«
»Ja. Das ist auch ein Grund, weshalb ich hier bin. Pater Federico ist verschwunden, wir brauchen Ihre Hilfe.«
17
Bitte nicht stören. Bin’s schon .
– T-Shirt-Aufdruck
Reyes wich mir den ganzen Abend nicht von der Seite, berührte mich am Arm, strich mir mit den Fingern über den Mund und löste in meinem Körper kleine Erdbeben aus. Doch momentan hatte ich das Haus voll hoher Tiere. Ganz im Ernst. Ich wette, sogar Mr Wong bekam Platzangst, obwohl er wie immer in seiner Ecke schwebte und der Welt den Rücken kehrte. Mann, sogar der Polizeichef und der Bezirksstaatsanwalt waren bei mir. Dafür hätte ich echt mal aufräumen können. Und Kerzen aufstellen. Mich ordentlich einschleimen. Cookie hatte alle Hände voll zu tun, Kaffee auszuschenken, während Amber alle Hände voll zu tun hatte, mit einem Frischling namens Dead Meat zu flirten, der tatsächlich darauf einging. Dabei war sie erst elf, um Himmels willen! Aber womöglich tat er ihr bloß einen Gefallen. Eigentlich war’s ganz niedlich. Auf eine krasse, irgendwie übergriffige Art.
In all dem Durcheinander erhielt ich einen Anruf von Chrystals Cousine.
»Hi, spricht da Ms Davidson?«, fragte sie scheu.
»Am Apparat. Bist du Debra?«, erkundigte ich mich, während ich Teddy einen Blick zuwarf. Ich war mir sicher gewesen, dass er in Anbetracht der ganzen Polizei hier glatt durchdrehen würde, doch er wirkte ganz entspannt, beinah erleichtert.
»Ja«, antwortete die Anruferin. »Chrystal hat mir erzählt, Sie suchen Reyes Farrows Schwester. Ich hab meine Freundin Emily angerufen, aber die konnte sich auch nur an den Vornamen seiner Schwester erinnern. Sie hieß Kim. Und sie und Reyes hatten unterschiedliche Nachnamen.«
Interessant. Ich fragte mich, ob sie Walker hieß, nach Earl Walker.
»Mehr wissen wir nicht mehr über sie«, fuhr sie fort. »Außer dass sie echt nett war.«
»Na, das ist mehr, als ich gestern wusste.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht groß weiterhelfen kann. Aber wissen Sie, beide waren sehr eng mit Amador Sanchez befreundet.«
»Ja, das hab ich schon gehört.« Vielleicht war dieser Sanchez ja des Rätsels Lösung. »Sag mal, auf welcher Schule wart ihr eigentlich?«
»Auf der Eisenhower Middle School.«
»Gut, es geht also um eine Kim, die vor etwa zwölf Jahren auf die Eisenhower Middle School ging, richtig?«
»Genau. Hoffentlich finden Sie sie.«
»Vielen Dank für den Anruf, Debra.«
»Keine Ursache.«
Na ja, sehr viel weiter brachte mich das nicht. Aber ich hatte nun eine Kim und die Eisenhower Middle School. Sah ganz so aus, als würde ich mich morgen wieder mit Onkel Bob herumtreiben, sofern er nichts dagegen hatte. Ob er mich dann ans Steuer ließ?
»Übrigens«, meldete sich Cookie und kam hüftschwingend auf mich zu. Sie hatte ebenfalls geflirtet. »Ich habe die Adresse und Telefonnummer von deinem Amador Sanchez.«
»Supi.« Also würde ich vor meinem Schulausflug Mr Sanchez einen Besuch abstatten. Vermutlich würde er mir den Nachnamen der Schwester verraten können und wo sie aufzutreiben war. Zellengenossen wussten alles voneinander. Vor allem Zellengenossen, die sich schon in ihrem früheren Leben gekannt hatten.
Wir klatschten ab, sie ging wieder Kaffee machen. Es war jetzt fast elf, und die vielen späten Abende forderten ebenso ihren Tribut wie die Prügel. Während mein Körper vor Erschöpfung schmerzte, wurde mein Verstand
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