Das Flüstern der Toten (German Edition)
aus dem Geschirrtuch. Sie hatte sich entschieden. »Er hat wegen mir schon genug durchgemacht, Charlotte. Ich habe ihm etwas versprochen. Das kann ich jetzt unmöglich rückgängig machen, nicht nach allem, was er für mich getan hat.«
So gerne ich ihr auch widersprochen hätte, so sehr konnte ich ihre Position verstehen. Ich sah ihr ihre Liebe an, hörte sie aus ihrer Stimme. Womit ich anfangs nicht gerechnet hatte, war ihre tiefe, unverbrüchliche Loyalität. Also musste ich mich ganz auf Onkel Bob verlassen. Er hatte Beziehungen. Wenn jemand Erfolg haben konnte, dann er.
Ich verließ Kim in derselben surrealen Verfassung, in der ich schon seit Tagen war. Mit jeder Stunde, die verging, erfuhr ich etwas neues Erstaunliches über Reyes. So lange hatte ich nach ihm gesucht und über ihn gerätselt, und nun diese Informationslawine. Das war kaum zu verarbeiten. Beklagen wollte ich mich allerdings nicht darüber. Wer verdurstet, dem ist auch eine Springflut recht. Allerdings war das Rätsel Reyes Farrow damit noch lange nicht gelöst. Lösen würde ich es. Die Frage war nur: Schaffte ich das in vierundzwanzig Stunden?
19
Ich sehe vielleicht nach nichts aus,
aber ich kann täuschend echt einen Ninja nachmachen .
– Stoßstangenaufkleber
»Wo steckst du?«
Ich kam gerade aus dem Gericht, als Onkel Bob anrief. Sussman hatte eine einstweilige Verfügung auf der frei erfundenen Grundlage vorgeschlagen, dass Reyes der einzige lebende Mensch sei, der eine Aussage gegen einen Serienmörder in Kansas machen könne. Ich hasste es, ein falsches Ass aus dem Ärmel zu schütteln, aber mehr hatten wir momentan nicht vorzuweisen. Falls wir damit durchkämen, wäre der Staat auch nur vorübergehend daran gehindert, Reyes’ Maschinen abzuschalten, aber immerhin würden wir ein wenig Zeit rausschlagen. Ich musste noch mal mit ihm reden, am besten ohne dass er mir zu nahe kam. Ohne dass er mich dabei anfasste. Vielleicht würde ich dann etwas Handfestes aus ihm rausholen. Ich fragte mich, ob ich ihn irgendwie bändigen, ihn vielleicht an die Spüle oder irgendwas fesseln könnte. Aber dazu brauchte ich ein übernatürliches Seil. Oder mit Feenstaub präparierte Handschellen.
»Und wo steckst du?«, fragte ich zurück. Onkel Bob war furchtbar neugierig.
»Wir müssen dich präparieren.«
»Wozu das? Haben wir darüber gesprochen?«
Ubie schnaubte wie ein Stier. Sehr lustig. »Bevor du da reingehst«, erklärte er aufgeregt.
»Oh, klar.« Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. »Ich habe gerade eine einstweilige Verfügung beantragt. Kannst du dich so schnell wie möglich darum kümmern? Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Sicher, ich rufe eine Richterin an, mit der ich mal ausgegangen bin.«
»Wir brauchen aber jemanden, der dich echt gut leiden kann und dir deshalb gerne einen Gefallen tut, Onkel Bob.«
»Und ob die mich mag, jeden Zentimeter.«
Ich blieb abrupt stehen, bekam eine Gänsehaut, dann setzte ich meinen Weg zu Misery fort. »Danke, Onkel Bob, du hast was gut bei mir.«
»Machst du Witze? Das kommt mit auf die Liste.«
»Äh, führen wir eine Liste? Denn wenn wir eine Liste führen – «
»Schwamm drüber. Aber komm endlich her.«
Nachdem wir unseren Plan noch mal bis zum Erbrechen mit unseren beiden Teams, den Technikern und den Einsatzkräften, durchgekaut hatten, kehrte ich in meine Wohnung zurück, um mich für meinen Auftritt umzuziehen. Die meiste Arbeit hatte ich damit, die bläulich schimmernden Blutergüsse abzudecken, die mir von meinen jüngsten Abenteuern geblieben waren. Als ich auf der Szene auftauchte, sah ich aus wie eine überarbeitete Bibliothekarin mit Schlafzimmeraugen und einem Schmollmund, der gestandene Männer zum Flennen bringen konnte.
Garrett hörte auf zu tun, was er gerade tat, und begaffte mich. Ich sah darin ein gutes Zeichen, bis er den Mund aufmachte: »Sie sollen ihn verführen, nicht seine Steuern prüfen.«
Dem Beispiel Elizabeth Ellerys folgend, trug ich sieben Zentimeter hohe Pfennigabsätze zu einem knallroten Kostüm. Allerdings hatte ich mir die Haare im Unterschied zu Elizabeth zu einem festen Knoten gebunden und trug eine Brille mit dickem Plastikgestell, die mich überdeutlich als Ordnungsfanatikerin auswies.
»Sind Sie überhaupt ein Mann, Swopes?« Als er verwirrt die Stirn in Falten legte, fragte ich: »Haben Sie es in Ihrer Fantasie nie mit einer Sekretärin, einer Bibliothekarin oder einer deutschen Lehrerin getrieben?«
Er blickte schuldbewusst um
Weitere Kostenlose Bücher