Das Flüstern der Toten (German Edition)
mich aufführte, wie viel ich mir in Anbetracht ihres Unglücks herausnahm. Einfach mit etwas derart Heiklem herauszuplatzen grenzte an Brutalität.
Statt einer Antwort traten Tränen unter ihren Wimpern hervor und flossen in Rinnsalen über ihre Wangen.
»Und er hat Sie, so gut er konnte, davor beschützt. Wie können Sie sich jetzt von ihm abwenden?«
»Ich sagte doch bereits, dass beschützen nicht ganz das richtige Wort ist.«
Gleich würde mir der Geduldsfaden reißen. Warum wollte sie ihm nicht helfen? Ich wusste, wie sehr er sich um sie gesorgt hatte und dass er an jenem Abend sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihr beizustehen. Dabei hätte er weglaufen können, zur Polizei, seinen durchgeknallten Vater den Behörden übergeben und frei sein können. Doch er blieb. Ihretwegen.
»Was ist dann das richtige Wort?«, fragte ich betont bissig.
Sie dachte lange darüber nach, dann blickte sie zu mir auf, ihre grünen Augen glänzten in der Nachmittagssonne. »Ertragen.«
Okay. Das warf mich aus der Bahn. »Ich verstehe nicht. Was – ?«
»Mein Vater … « Sie brach ab, als würde ihre Stimme unter der Last der Worte nachgeben. »Mein Vater hat mich niemals angerührt. Ich war lediglich die Waffe, mit der er Reyes in Schach gehalten hat.«
»Aber Sie haben doch … angedeutet, dass es sexuelle Übergriffe gab.«
Sie sah mich an, und in ihren grünen Augen lag angesichts dessen, was ich sie zu sagen nötigte, so etwas wie Feindseligkeit. »Er hat mich nicht angefasst. Mich nicht . Ich habe nicht behauptet, dass es keine Übergriffe gab.«
Ich war völlig verblüfft, verstummte eine volle Minute lang, um zu verdauen, was Kim mir gerade mitgeteilt hatte, drehte und wendete es im Geiste, um mir darüber klar zu werden. Selbst das Nachdenken darüber tat weh, als wäre der Gedanke etwas Körperliches, eine mit spitzen Glasscherben gespickte Schachtel, an der ich mir jedes Mal, wenn ich sie öffnen wollte, die Fingerspitzen aufriss.
»Zuerst hat er ihn mithilfe von Tieren unter Kontrolle gehalten.«
Zögernd wandte ich mich wieder ihrem verletzlichen Gesicht zu.
»Als Reyes noch klein war, benutzte er Tiere. Wenn Reyes sich nicht benahm, mussten die Tiere dafür bezahlen und an seiner Stelle leiden. Unser Vater erkannte sehr früh, dass er ihn anders nicht in den Griff bekam.«
Ich blinzelte, ließ ihre Worte sacken, auch wenn ich sie eigentlich nicht hören wollte.
»Dann gab ihm meine Mutter – sie war drogensüchtig und starb irgendwann an den Folgen ihrer Gelbsucht – die wirksamste Waffe an die Hand. Mich. Sie legte mich ihm vor die Tür und sah sich kein einziges Mal nach mir um. Damit gab sie meinem Vater Macht über Reyes. Wenn er dem Mann nicht aufs Wort gehorchte, bekam ich nichts zu essen. Weder Frühstück noch Mittag- oder Abendessen. Schließlich nicht mal mehr Wasser. So ging das, bis Reyes einlenkte. Mein Vater interessierte sich nur für mich, wenn er mich benutzen konnte. Damit mein Bruder in allen Lebenslagen spurte.«
Ich saß sprachlos da, unfähig zu begreifen, wie man so leben konnte. Ich konnte mir Reyes unmöglich so hilflos vorstellen, als Sklaven eines Ungeheuers. In meiner Brust wurde es immer enger, mein Magen revoltierte, ich spürte, dass mein Frühstück den Rückweg antreten wollte. Ich schluckte gewaltsam und holte mehrmals tief Luft, angewidert von mir selbst, weil ich Kim dazu brachte, etwas preiszugeben, das so furchtbar war, dass ich es mir nicht einmal vorstellen wollte.
»Sie müssen wissen, wie Reyes ist«, fuhr sie fort, ohne etwas von meiner Not zu ahnen. »Wie er tickt. Was ich Ihnen gerade erzählt habe, ist die Wahrheit, aber so, wie er es sah, hat unser Vater mir seinetwegen wehgetan. Er nahm all die Jahre die Last auf sich, übernahm die Verantwortung für mein Wohlergehen, wie ein guter König im Märchen.«
Damit mein Kinn nicht zitterte, biss ich die Zähne zusammen.
»Er sagte zu mir, dass mir nie wieder jemand seinetwegen wehtun würde. Wie kommt er darauf? Es war doch genau umgekehrt. Mein Vater hat ihm meinetwegen wehgetan.« Sie wischte sich eine Träne ab und sah mich hilflos an. »Wissen Sie, warum ich Ihnen das alles erzähle?«
Ihre Frage kam überraschend. Ich schüttelte den Kopf. Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht.
»Weil Sie es sind.«
Ich gab mir Mühe, klar zu denken und ihr genau zuzuhören.
»Reyes hatte als kleiner Junge Anfälle. Manchmal dauerten sie über eine Stunde. Wenn es vorbei war, erinnerte er sich an die
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