Das Flüstern der Toten (German Edition)
versiegelten Lippen vor ihr, da ich nicht auf ihr durchsichtiges Manöver hereinfallen wollte.
Dann richtete sie ihren machtvollen, durchdringenden Blick auf mich, und ich knickte ein. »Einen Blaubeerbagel.«
Sie zog ärgerlich die Brauen hoch und widmete sich wieder ihrem Burrito.
Puh . Das war knapp. Wer hätte gedacht, dass die Erwähnung eines Blaubeerbagels meine Stiefmutter dermaßen irritierte? Vielleicht hätte ich auch noch den Erdbeerfrischkäse erwähnen sollen. Es war schlimm, für die Frau, die mich erzogen hatte, eine so herbe Enttäuschung zu sein, aber zum Kuckuck, ich tat, was ich konnte. Sie wäre noch enttäuscht gewesen, wenn ich das Rad erfunden hätte. Oder die Haftnotizen. Oder das Knochenmark.
Mein Vater stand umständlich auf, um mir einen Kuss zu geben, und stöhnte leise auf, als er mein lädiertes Kinn bemerkte. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Zustand auch Denise nicht entgangen war – ich hatte gesehen, wie ihre Augen eine Winzigkeit größer wurden, ehe sie sich zusammenriss – , aber da sie nichts dazu sagte, hielt ich meinerseits ebenfalls die Klappe.
Ich setzte schnell die Brille auf und schüttelte den Kopf. Mein Vater hielt inne, runzelte missvergnügt die Stirn, weil ich vor meiner bösen Stiefmutter keine Erklärung abgeben wollte, und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
»Ich komme gleich hoch.« Damit ließ er mich wissen, dass er eine Erklärung erwartete.
»Wenn du Glück hast, bin ich da«, sagte ich und öffnete die Gittertür des Aufzugs.
Er gluckste.
Denise seufzte.
Meine Stiefmutter hat sich nie besonders um meine Ernährung gekümmert. Ich schätze, die angenehmen Sachen sind meiner älteren Schwester zugutegekommen, und als sie dann mich »bekam«, waren ihre mütterlichen Reserven bereits aufgezehrt. Eine sachdienliche Info gab sie mir doch mit auf den Weg. Sie war es, die mich darüber aufklärte, dass ich die Aufmerksamkeitsspanne einer Stechmücke hatte, allerdings einer Stechmücke mit selektivem Gehör. Zumindest glaube ich, dass sie das sagte. Zugehört habe ich ihr nicht. Oh, und dass die Männer immer nur das eine wollen, hat sie mir auch noch mit auf den Weg gegeben.
In der Hinsicht muss ich der höheren Macht danken. Denn ich bin selbst auf nichts anderes aus.
Aber wer könnte ihr daraus einen Vorwurf machen? Ich meine, sie hatte doch Gemma. Gemma Vi Davidson. Die Gemma Vi Davidson.
Da konnte ich nicht mithalten. Vor allem, da Gemma und ich absolut nichts gemeinsam hatten. Gemma war blond und hatte blaue Augen. Ich nicht.
Gemma war immer eine Streberin. Während ich bloß nach allem strebte, was das Leben mir zu bieten hatte.
Während Gemma sich den Wissenschaften verschrieb, legte ich mich lieber auf die faule Haut.
Während Gemma Fremdsprachen lernte, stand ich auf den scharfen Italiener aus der Nachbarschaft.
Und während Gemma das College innerhalb von dreieinhalb Jahren mit magna cum laude und einem Bachelor in Psychologie abschloss, beendete ich das College ebenfalls in dreieinhalb Jahren mit einem Bachelor in Soziologie, allerdings mit summa cum laude .
Gemma verzieh mir nicht, dass ich sie in den Schatten gestellt hatte, aber immerhin trieb sie das an, ihre Ausbildung als Teil unseres unendlichen Konkurrenzkampfes fortzusetzen. Und mit dem Master war für sie auch noch nicht Schluss. Sie schaffte sogar den Doktor der Philosophie, allerdings in Gestalt eines verheirateten Professors namens Dr. Roland. Als sie gerade mal dreißig war, promovierte sie dann selbst.
Aber den Professor hatte sie nötiger.
Denise hat mir ebenfalls nie verziehen. Als Gemma das Examen ablegte, glänzten in Denises Augen Freudentränen. Als ich den Abschluss schaffte, verdrehte sie die Augen häufiger als ein Junkie mit einem Treuhandfonds. Vermutlich war sie sauer, weil sie ihr samstägliches Treffen der Gartenfreunde versäumte und stattdessen meiner Examensfeier beiwohnen musste. Es könnte aber auch an dem T-Shirt gelegen haben, das ich unter dem Festgewand trug und auf dem das Wort JEANIUS stand.
Mein Vater indes war stolz auf mich. Ich tat lange so, als ob mir das genügte. Ich hoffte immer, Denise würde eines Tages die übermenschliche Gabe entwickeln, auf mehr als einen Menschen stolz zu sein.
Doch dieser Tag kam nie. Also tat ich aus schierem Trotz genau das, was Denise von mir erwartete: Ich enttäuschte sie. Aufs Neue. Da Denise fand, dass eine Frau vor einer Schulklasse stehen müsste, schlenderte ich zu einem Rekrutierungsbüro
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