Das Flüstern der Toten (German Edition)
Schotter, während er nach Atem rang und gierig die kalte Luft in sich aufnahm. Er trug lediglich ein dünnes T-Shirt und eine graue Trainingshose. Ihm musste eiskalt sein.
Das Mitgefühl schnürte mir das Herz ein. Ich ging neben ihm in die Hocke, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Er atmete flach und rasch. Seine sehnigen Arme waren vor Schmerz verkrampft. Ich sah die glatten, scharfen Umrisse einer Tätowierung, und weiter oben lockte sich dichtes, dunkles Haar über einem Ohr.
Gemma nahm die Kamera vom Hals und leuchtete damit. Der Junge blickte auf. Er blinzelte ins Licht und hob eine schmutzige Hand, um sich die Augen zu beschirmen.
Und seine Augen waren der Hammer. Ein wunderbares Braun, tief, leuchtend, darin Einsprengsel von Gold und Grün, die im Licht glänzten. Eine Gesichtshälfte war blutbesudelt. Er sah aus wie ein Krieger aus einem Spielfilm im Spätprogramm, ein Held, der trotz geringster Erfolgsaussichten in die Schlacht gezogen war. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich einen Fehler gemacht hatte und er womöglich schon tot war, dann fiel mir ein, dass Gemma ihn auch sah.
»Geht’s dir gut?« Eine blöde Frage, aber ich kam auf nichts Besseres.
Er sah mich lange an, dann wandte er sich ab und spuckte Blut aus, ehe er mich wieder ansah. Er war älter, als ich zuerst gedacht hatte. Vielleicht siebzehn, achtzehn.
Er wollte wieder aufstehen. Ich sprang auf, um ihm zu helfen, doch er schreckte vor meiner Berührung zurück. Trotz des überwältigenden, fast verzweifelten Bedürfnisses, ihm zu helfen, trat ich zur Seite und sah zu, wie er sich aufrappelte.
»Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen«, sagte ich, als er stand.
Mir erschien das absolut logisch, doch er beäugte mich feindselig und misstrauisch. Offenbar stand mir die erste Lektion über das unlogische Verhalten des männlichen Bevölkerungsteils bevor. Wieder spuckte er aus und machte sich dann auf den Weg zu dem schmalen Durchlass, den wir eben passiert hatten. Dort stützte er sich beim Gehen an der Backsteinmauer ab.
»Hör mal«, rief ich, während ich ihm in die Gasse folgte. Dabei klammerte sich Gemma an meine Jacke und zerrte immer wieder daran; sie hatte eindeutig was dagegen, dem Jungen nachzugehen. Ich zog sie achtlos hinter mir her. »Wir haben gesehen, was passiert ist. Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen. Unser Wagen steht in der Nähe.«
»Verschwindet von hier«, brummte er schließlich mit tiefer, schmerzerfüllter Stimme. Mühsam kletterte er auf eine Kiste und langte nach einem hohen Fenstersims. Sein schlanker, muskulöser Körper zitterte sichtlich, als er sich reckte, um einen Blick in die Wohnung zu werfen.
»Du willst wieder da rein?«, fragte ich alarmiert. »Hast du sie nicht mehr alle?«
»Charley«, hauchte Gemma hinter mir, »vielleicht sollten wir ihn einfach machen lassen.«
Natürlich schenkte ich ihr keine Beachtung. »Der Kerl wollte dich umbringen.«
Er warf mir einen wütenden Blick zu, dann wandte er sich wieder dem Fenster zu. »Welchen Teil von Verschwindet von hier hast du nicht kapiert?«
Ich gebe zu, in dem Moment geriet ich ins Wanken. Aber ich dachte daran, was vielleicht passieren würde, wenn er in diese Wohnung zurückkehrte. »Ich rufe die Polizei.«
Heftig drehte er den Kopf zu mir. Eine schön anzusehende Lebhaftigkeit erfasste ihn, als würden ihm die Schläge plötzlich nichts mehr ausmachen. Er sprang von der Kiste und landete sicher vor mir.
Gerade so kräftig, dass ich mich nicht loswinden konnte, legte er mir eine Hand an den Hals und drückte mich gegen die Backsteinmauer. Lange starrte er mich bloß an. Gefühle ohne Ende flogen über sein Gesicht: Zorn, Frust, Angst …
»Das wäre keine gute Idee«, sagte er schließlich. Eindeutig eine Warnung. Doch seine weiche Stimme verriet einen guten Schuss Verzweiflung.
»Mein Onkel ist Polizist, mein Vater war früher auch bei der Polizei. Ich kann dir helfen.« Hitze ging von ihm aus, und ich erkannte, dass er Fieber haben musste. Hier nur im T-Shirt in der eisigen Kälte zu stehen konnte nicht gut für ihn sein.
Meine Kühnheit schien ihn zu erstaunen. Um ein Haar hätte er gelacht. »Wenn ich mal die Hilfe von einer Rotzgöre aus den Heights brauche, wirst du es als Erste erfahren.«
Der feindselige Ton brachte meine Entschlossenheit ins Wanken, aber nur kurz, dann fasste ich mich wieder und ging zum Angriff über. »Wenn du wieder da reingehst, rufe ich die Polizei. Ernsthaft.«
Er knirschte
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