Das Flüstern der Toten (German Edition)
kicherte. »Ich komme gleich nach.«
»Alles klar«, sagte ich und machte mich winkend auf den Weg. »Dann bis gleich. Sie halten die Stellung, Mr Wong.«
5
Jeanius
– T-Shirt
Während ich die fünfzig Meter Gasse entlangtrottete und die Bar meines Vaters durch den Hintereingang betrat, dachte ich darüber nach, aus welchen Gründen alle drei Anwälte, statt den Abgang ins Jenseits anzutreten, im Diesseits zurückgeblieben waren. Meine Überlegungen gingen – bei einer zwölfprozentigen Fehlerquote je nach Reichweite meines Selbstvertrauens und aufgrund der Warnhinweise des Gesundheitsministeriums – davon aus, dass sie nicht wegen der Tacos geblieben waren.
Es dauerte einen Moment, bis ich die Sonnenbrille in meiner Ledertasche verstaut hatte und meine Augen sich an das trübe Licht im Innern der Bar anpassten. Die Bar meines Vaters war, gelinde gesagt, eine Wucht. Sie hatte eine Kathedralendecke, und sämtliche Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, verschwanden aber weitgehend unter Bilderrahmen, Orden und Wimpeln aus der Welt der Verbrechensbekämpfung. Vom Hintereingang aus gesehen, befand sich der Tresen rechts, in der Mitte standen runde Tische und Stühle, an der Seitenwand Bistrotische. Aber das Highlight dieses Geheimtipps waren die hundert Jahre alten kunstvollen Verzierungen, die den Hauptraum wie ein Kranzprofil umgaben. Sie lenkten das Auge in Spiralen zur Westwand mit dem prachtvollen, schmiedeeisernen Aufzug. Das war so einer, den man sonst nur noch in Filmen und sehr alten Hotels sieht, die Sorte, die dem begeisterten Betrachter das ganze Innenleben samt Seilzügen offenbart und die ewig und drei Tage braucht, um sich in den nächsten Stock zu hieven.
Mein Büro beanspruchte den größten Teil des oberen Stockwerks und hatte einen separaten Seiteneingang, zu dem eine malerische Treppe im typischen Neuenglandstil führte. Doch da ich bezweifelte, die Treppe bewältigen zu können, ohne mich dabei über Gebühr zu quälen, und da ich Qualen jeder Art für ungebührlich hielt, verließ ich mich, trotz seiner Mängel, lieber auf den Aufzug in der Bar.
Ich lächelte, als die Stimme meines Vaters an mein Ohr drang. Mein Vater war wie Regen in einer Wüste. Während meiner Kinderjahre hatte er mich davor bewahrt, zu verdorren und einfach einzugehen. Ein furchtbarer Gedanke.
Ich schlenderte hinein und entdeckte seine hochgewachsene, schlanke Gestalt an einem Tisch, an dem er mit meiner bösen Stiefmutter und meiner älteren Nichtstiefschwester saß. Wenn mein Vater der Regen in einer Wüste war, waren die beiden die Skorpione im Sand. Daher hatte ich schon vor langer Zeit gelernt, ihnen nicht in die Quere zu kommen. Meine leibliche Mutter war bei meiner Geburt gestorben – verblutet, während sie mich zur Welt brachte, woran ich nur äußerst ungern dachte – , und mein Vater hatte Denise noch vor meinem ersten Geburtstag geheiratet. Ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Denise und ich waren nie miteinander warm geworden.
»Hey, Schatz«, rief Dad, als ich die Sonnenbrille wieder aufsetzte und mich unbemerkt vorbeischleichen wollte, ohne genau zu wissen, wieso ich dabei die Sonnenbrille für hilfreich hielt.
Es ärgerte mich ein wenig, entdeckt worden zu sein, bevor ich kapierte, dass ich ohnehin nicht davonkommen würde. Der verdammte Aufzug war lauter als ein Chevy und kroch nach oben wie eine verwundete Schnecke. Denise hätte bestimmt mitgekriegt, wenn neben ihr ein dunkelhaariges Mädchen mit Sonnenbrille eingestiegen wäre.
Also schlenderte ich zum Tisch.
»Komm, frühstücke mit uns«, sagte mein Dad. »Ich geb dir was ab.«
Denise und Gemma hatten meinem Dad das Frühstück gebracht. Ich war anscheinend nicht eingeladen – Überraschung – , obwohl ich nur einen Katzensprung von der Hintertür entfernt wohnte.
Gemma sah nicht mal von ihrem Frühstücksburrito auf, dabei hätte ja eine Strähne ihrer Frisur verrutschen können, und Denise quittierte Dads Einladung bloß mit einem Seufzen, machte sich aber daran, seinen Burrito durchzuschneiden, um mir etwas abzugeben.
»Schon gut«, sagte ich. »Ich hab schon gefrühstückt.«
Darauf starrte sie mich stinksauer an. So erging es mir meistens mit ihr. »Was denn?«, erkundigte sie sich mit messerscharfer Stimme.
Ich zögerte. Sie wollte mich hereinlegen, das spürte ich genau. Sie tat so, als sorgte sie sich um den Nährwert meines Frühstücks, damit ich sie für eine treu sorgende Stiefmutter hielt. Doch ich stand mit
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