Das Flüstern der Toten (German Edition)
frustriert mit den Zähnen. »Du richtest mehr Schaden an, als gut für dich ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das bezweifele ich.«
»Du weißt nichts über mich. Oder über ihn.«
»Ist er dein Vater?«
Er zögerte, starrte ungeduldig vor sich hin, als würde er überlegen, wie er mich am besten loswerden könnte. Dann traf er eine Entscheidung. Ich konnte es ihm vom Gesicht ablesen.
Seine Züge verdüsterten sich. Er trat näher heran, drückte seinen ganzen Körper an mich und flüsterte mir ins Ohr: »Wie heißt du?«
»Charley«, antwortete ich. Mit einem Mal hatte ich Angst, viel zu große Angst, um ihm eine Antwort schuldig zu bleiben. Dann wollte ich Davidson hinzufügen, doch da zog er mir den Schal vom Gesicht, um mich besser sehen zu können, sodass Davidson undeutlich und verkürzt klang, ungefähr wie …
»Dutch?«, fragte er und zog die Brauen zusammen.
Ich hatte noch nie etwas Schöneres als ihn gesehen. Er war fest, stark und feurig. Und verletzlich. »Nein«, hauchte ich, während seine Finger an mir herabglitten und unverschämt meine Brust berührten. »Davidson.«
»Bist du schon mal vergewaltigt worden, Dutch?«
Damit wollte er mir zweifellos brutal vor den Kopf stoßen, doch das änderte nichts daran, dass mich die Frage völlig unvorbereitet traf. Ich war sprachlos und total entsetzt. Ich kämpfte gegen den Drang an, einfach wegzulaufen; ich wollte mich nicht unterkriegen lassen, aber mein Selbsterhaltungstrieb ließ sich nur schwer unterdrücken. Ein kurzer, Hilfe suchender Blick zu Gemma brachte mich nicht weiter. Meine Schwester hielt bloß Maulaffen feil, klammerte sich geistesabwesend an ihre Kamera, als käme es darauf noch an, und brachte es trotzdem fertig, nichts von dem ganzen Geschehen für die Nachwelt festzuhalten.
»Nein«, antwortete ich atemlos.
Sanft rieb er die Wange an meiner und schloss die Hand abermals leicht um meine Kehle. Für einen Passanten hätten wir wie ein im Dunkeln knutschendes Liebespaar ausgesehen.
Er zwängte ein Knie zwischen meine und drückte sie auseinander, um sich Zugang zu meinem Allerheiligsten zu verschaffen. Die intime Berührung, als seine freie Hand zwischen meinen Beinen verschwand, ließ mich keuchen, und mir wurde instinktiv klar, dass ich drauf und dran war, mich der Erregung zu überlassen. Ich griff nach seinen Handgelenken.
»Bitte, hör auf damit.«
Er hielt inne, seine Finger verharrten in meinem Schritt. Ich schob ihn mit der flachen Hand an der Brust behutsam weg, damit er von mir abließ. »Bitte.«
Er glitt zurück und sah mir in die Augen. »Du gehst?«
»Ja, ich gehe.«
Sein Blick ließ mich lange nicht los, dann hob er beide Arme und stützte sie über meinem Kopf gegen die Mauer. »Na los doch!«, sagte er schroff.
Das war kein Vorschlag zur Güte. Ich duckte mich unter seinen Armen hindurch, nahm die Beine in die Hand, ehe er es sich anders überlegte, und schnappte mir nebenbei Gemma.
Als wir um die Ecke bogen, sah ich mich um und blieb stehen. Er hatte sich auf eine Kiste gesetzt und starrte zu dem Fenster hoch. Schwer seufzend lehnte er den Kopf gegen die Mauer. Mir wurde klar, dass er nicht in die Wohnung zurückkehren würde. Er wollte lediglich das Fenster im Auge behalten.
Ich fragte mich, wen er dort drinnen zurückgelassen hatte. Zwei Tage später fand ich es heraus, als ich mich mit der wütenden Vermieterin unterhielt. Die Familie aus 2C war mitten in der Nacht ausgezogen und hatte sie auf zwei Monatsmieten und den Kosten für eine kaputte Fensterscheibe sitzen lassen. Mein Selbsterhaltungstrieb hinderte mich, die Umstände zu erwähnen, unter denen die Fensterscheibe zu Bruch gegangen war. Als ich die Leier über ihren Verlust endlich unterbrechen konnte, erzählte sie mir, der Alte hätte den Jungen Reyes genannt. Nun wusste ich also seinen Namen. Doch das war nicht die Antwort auf meine brennende Frage. Endlich kam die Vermieterin darauf zu sprechen.
Es war seine Schwester. Seine Schwester war in der Wohnung gewesen. Allein. Mit diesem Ungeheuer.
»Unglaublich«, meinte Cookie und riss mich zurück in die Gegenwart. »Ist er denn, du weißt schon, tot?«
Cookie hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, dass ich die Verstorbenen sehen konnte, und hatte trotzdem nichts gegen mich.
»Das ist ja das Komische«, sagte ich. »Ich weiß es einfach nicht. Mit ihm ist alles ganz anders, als ich es gewohnt bin.« Ich sah auf die Uhr. »Mist, ich muss ins Büro.«
»Oh! Eine Superidee.« Sie
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