Das Flüstern der Toten (German Edition)
suchend um, mit großen Augen, unsicher. »Das große, böse Dings?«
»Reyes.«
Sie erstarrte, kaute einen Augenblick lang auf der Unterlippe herum, sah mich dann wieder an und fragte: »Hast du ihn von mir gegrüßt?«
Am folgenden Morgen war ich immer noch steif vor Schmerzen. Aber immerhin lebte ich noch. Halb volles Glas und so. Ich hatte es sogar einmal unfallfrei ins Badezimmer geschafft. Was bestimmt ein gutes Omen für den vor mir liegenden Tag war. Ich fand, das stand mir zu nach dieser verkorksten Nacht. Reyes hatte sich nicht mehr blicken lassen. Schon wieder. Während ich mich noch im Bett wälzte, kam eine SMS von Onkel Bob.
Nachdem ich das verarbeitet hatte – eine SMS zu schicken war eigentlich nicht Ubies Ding – , versuchte ich, die Nachricht zu entziffern. Es ging um FECAL DABL und HIKE SCHOOP, was ausreichte, um dem Tag voller Vorfreude entgegenzusehen. Wir würden Reyes’ Highschool einen Besuch abstatten.
Ich war die halbe Nacht aufgeblieben und hatte Reyes’ Gefängniskarriere studiert; die Akte war randvoll mit unbezahlbaren Informationen über ihn. Ich hatte selten etwas so Interessantes gelesen. Er hatte den höchsten IQ aller jemals in New Mexico einsitzenden Häftlinge. Wie hieß das noch? Unmessbar? Er lebte im Knast ziemlich zurückgezogen, obwohl er durchaus ein paar Freunde hatte, darunter einen Zellengenossen, der seit sechs Monaten auf Bewährung draußen war. Und der Vollzugsbeamte im Krankenhaus hatte die Wahrheit gesagt. Reyes hatte ihm während eines Gefängnisaufstands das Leben gerettet. Der Beamte war, als der Aufstand losging, isoliert und von einer Handvoll Knackis eingekreist worden. Als Reyes dazukam, hatten sie den Wärter schon fast bewusstlos geprügelt. Der wusste deshalb nicht, wie seine Rettung abgelaufen war. Er gab nur zu Protokoll, Reyes habe ihm das Leben gerettet, ihn in Sicherheit gebracht und bis zur Niederschlagung des Aufstands versteckt.
Ich war so stolz auf Reyes. Ich wusste jetzt, dass er zu den Guten zählte. Doch während alles, was ich seiner Akte entnehmen konnte, meine Fantasie auf das Schönste beflügelte, brachte mich nichts davon seiner Schwester näher.
Ich überlegte, ob ich Garrett einschalten sollte. Wenn jemand Reyes’ Schwester aufspüren konnte, dann er. Aber das erforderte einige Erklärungen. Ich schob die Idee erst mal beiseite und trat aus der Dusche. Da stand Angel Garza, mein dreizehnjähriger, supercooler Ermittler, mit der Hüfte gegen das Waschbecken gelehnt.
»Brauchen Sie mich, Chefin?«, fragte er und strich mit den Fingern über den Wasserhahn.
»Wo hast du gesteckt?« Als er nicht hinsah, griff ich nach meinem Bademantel. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Du warst noch nie so lange verschwunden.«
»Entschuldigen Sie, ich war bei meiner Mom.«
»Oh.« Ich behielt mein Misstrauen für mich und wickelte mir ein Handtuch um den Kopf. Noch vor einer Minute hatte ich unbekleidet vor ihm gestanden, und Angel, der gewöhnlich nichts anbrennen ließ, hatte nicht darauf reagiert. Irgendwas stimmte da nicht. Angel hätte – im übertragenen Sinne – sein Leben gegeben, um mich nackt zu sehen. Am besten splitterfasernackt. Das hatte er mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit klargemacht. Aber statt mich zu begaffen, befummelte er den Wasserhahn. In Angels Welt lag definitiv irgendwas im Argen.
Dreizehnjährige tote Bandenmitglieder waren soo launisch.
Angel und ich hatten uns zusammengetan, nachdem ich ihm in der Nacht des göttlichen Reyes, wie ich sie nannte, begegnet war. Anschließend hatte er mich durch die Highschool, das College und schließlich bis ins Friedenskorps begleitet. Als ich danach mein Detektivbüro aufgemacht hatte, wurden wir uns handelseinig, dass ich das Geld, das er bei mir verdiente, seiner Mutter schickte – natürlich anonym – und er dafür mein erster, bester und einziger Ermittler wurde.
Doch irgendwann begann Angel die Vorzüge unseres Arrangements aus einer anderen Warte zu betrachten. Er wollte mich zu einer Betrugsmasche überreden.
»Wir wären ein astreines Team, Mann«, meinte er.
»Sind wir das nicht auch so?«
»Überlegen Sie doch mal. Wir könnten die Verwandten der Verstorbenen abziehen wie die Blöden.«
»Das nennt man Erpressung.«
»Das nennt man Kapitalismus.«
»Dafür muss man ein bis vier Jahre im Staatsgefängnis brummen und eine empfindliche Geldstrafe bezahlen.«
Schließlich wurde er sauer und beschimpfte mich: »Sie wollen nur meinen Körper.«
Der
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