Das Flüstern der Toten (German Edition)
Tag, an dem ich auf einen toten Dreizehnjährigen scharf bin, wird der Tag sein, an dem ich mich selbst einliefere. »Du hast gar keinen Körper«, erinnerte ich ihn.
»Und das sagen Sie mir ins Gesicht.«
»Genau genommen hast du nicht mal ein Gesicht. Und selbst wenn wir aus unseren Gaben bare Münze schlagen, kannst du dir damit noch lange kein neues Skateboard kaufen.«
»Aber das wäre Extrakohle für meine Mom.«
»Dafür ist gesorgt.«
»Und auf die Erleuchtung stehe ich auch.«
»Die was?«
»Die Erleuchtung. Sie wissen schon, das Gesicht, das die Leute machen, wenn sie endlich kapieren, dass man wirklich da ist. Das ist wie ein Stromschlag. Ein Kribbeln am ganzen Körper. Wie bei einer statisch aufgeladenen Decke.«
»Echt? Das höre ich zum ersten Mal.«
»Ja, und ich find’s stark, wenn die Leute mitkriegen, dass wir unter ihnen sind.«
Ich beugte mich zu ihm und fragte: »Soll deine Mom mitkriegen, dass du noch da bist?«
»Nee. Sie hat lange genug um mich getrauert.«
Alles in allem war er ein guter Junge. Allerdings benahm er sich völlig anders als sonst.
Ich schob ihn zur Seite und begann, in meinem Make-up-Beutel zu kramen. »Alles gut bei dir?«, erkundigte ich mich so beiläufig wie möglich.
»Klar«, antwortete er achselzuckend. »Aber Sie sehen echt scheiße aus, ich kann Sie keine zwei Sekunden allein lassen.«
»Ich hatte eine interessante Woche. Zum Beispiel habe ich Rosie rausgehauen«, erklärte ich mit Bezug auf unseren Fluchthelferfall. Es war Angels Idee gewesen, Rosie nach Mexiko zu schicken, und er hatte auf der Suche nach dem kleinen, zum Verkauf stehenden Strandhotel jede Menge Laufarbeit geleistet. Außerdem hatten wir uns etwas einfallen lassen müssen, um Geld aufzutreiben, aber am Ende war alles gut gegangen.
Er berührte eine Parfumflasche auf dem Badezimmerbord. »Wissen Sie, es ist gar nicht so übel hier«, bemerkte er rätselhaft.
Nachdem ich die neuen Grünschattierungen in meinem Gesicht bewundert hatte, legte ich die Grundierung weg und sah ihn an.
»Ich meine, auf dieser Seite. Es ist ja nicht so, dass wir Hunger hätten oder frieren müssten oder so.«
Na, das war jetzt echt schräg. »Verschweigst du mir irgendwas?«
»Nein. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen. Für alle Fälle und so.«
Als mir aufging, dass er damit womöglich auf Reyes anspielte, holte ich vorsichtig Luft. »Angel, weißt du irgendetwas über Reyes Farrow?«
Er zuckte zusammen und sah überrascht zu mir hoch. »Nein. Ich weiß gar nichts über ihn. Also, haben Sie jetzt einen Job für mich oder nicht?«, wechselte er rasch das Thema.
Verflucht. Niemand wusste etwas über Reyes, trotzdem schienen sich alle sofort vom Acker zu machen, sobald ich nur seinen Namen erwähnte. Ich würde töten, um endlich zu erfahren, was da im Busch war.
Ich brachte Angel über unseren Fall um die drei Anwälte und den zu Unrecht verurteilten Mark Weir auf den neusten Stand. Er konnte es natürlich kaum abwarten, Elizabeth kennenzulernen. Dann beauftragte ich ihn, nach einer Verbindung zwischen dem toten Jungen in Marks Hinterhof und dem verschwundenen Neffen zu suchen.
»Oh«, sagte Angel noch, ehe er verschwand, »Tante Lillian ist hier. Die find ich nett.«
Ich versuchte, nicht enttäuscht auszusehen. »Ich find sie auch nett, aber sie macht miesen Kaffee. Was vor allem daran liegt, dass er nicht existiert.«
Er kicherte und machte sich auf den Weg. Unterdessen zog Tante Lillian mit Mr Habersham ab, dem Toten aus 2B. Ich wollte nicht mal wissen, was sie mit dem vorhatte. Als es an der Tür klopfte, beeilte ich mich, die Reißverschlüsse meiner Stiefel zuzuziehen. Ich war erst in zwanzig Minuten mit Onkel Bob verabredet und hatte keinen Schimmer, wer so früh am Morgen vor meiner Tür stehen könnte.
Ich glättete den braunen Pulli über meinen Jeans, peilte durch den Spion und bekam glatt einen Schlag, als ich Officer Taft erkannte. Das konnte unmöglich wahr sein. Nicht jetzt.
Ich öffnete langsam die Tür, was vor allem daran lag, dass mir jede Bewegung wehtat. Mein ganzer Körper summte von einem dumpfen Dauerschmerz. »Ja?«, fragte ich, indem ich durch den Türschlitz spähte.
»Hey«, sagte er und sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Ich habe mich bloß gefragt, ob wir uns mal unterhalten können.«
»Worüber unterhalten?« Ich konnte nicht weiter öffnen. Ich wusste, dass sie da war, ich spürte die Hitze ihres Laserblicks, mit dem sie mir das
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