Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
halten, bis ich meine sterbliche Hülle abgestreift habe!«
Entschlossen fuhr er fort: »Nun können wir hoffentlich in unser Cottage zurückkehren und den Rest unseres Urlaubs ungestört verbringen. Eigentlich wollte ich mich doch hier erholen. Also, mein lieber Watson, lass uns diese Angelegenheit vergessen, auf dass ich mich wieder guten Gewissens dem Studium der chaldäische Ursprünge im kornischen Zweig der keltischen Sprachfamilie widmen kann!«
Die Entführung des Mycroft Holmes
Ich beobachtete die Mimik meines geschätzten Freundes Sherlock Holmes, der mir gegenüber am Frühstückstisch saß und das Telegramm las, das Mrs. Hudson zusammen mit dem Tee gebracht hatte. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich Verwunderung; vom Tee hatte er noch keinen Schluck getrunken.
Ich konnte nicht länger an mich halten. »Schlechte Nachrichten, Holmes?«, fragte ich.
Er blickte auf, blinzelte verwirrt und reichte mir das dünne Blatt Papier. »Eine äußerst befremdliche Nachricht von meinem Bruder Mycroft.«
Ich las:
Sollte mir etwas zustoßen, vertraue nicht dem Mann, der Sanft ist. Im Falle meines Verschwindens sollst du mich im Land des Ciar bei der Beule der Ziegen suchen. Mycroft.
»Trinkt er gern einen über den Durst, dein Bruder Mycroft?«, fragte ich belustigt. »Es scheint mir, als hätte er sich ein, zwei Gläschen genehmigt, als er diese Nachricht verfasste.«
Holmes aber wirkte ernst und besorgt. »Du kennst ihn nicht. Diese Zeilen sind ein Code, den ich entziffern muss. Er ist offensichtlich in Gefahr. Anderenfalls hätte er mir in allgemein verständlichen Worten geschrieben.«
Er zog sich zurück in seinen Sessel, und schon bald kringelten sich Rauchwölkchen aus seiner Pfeife, ein Anblick, der mich daran erinnerte, dass ich noch Tabak kaufen wollte. Also beendete ich mein Frühstück und begab mich zum Tabakwarenhändler, wo ich auch eine Tageszeitung erwarb. Als ich knapp eine Viertelstunde später nach Hause zurückkehrte, traf ich Holmes in einem Zustand größter Aufregung an.
»Gott sei Dank bist du wieder da, Watson!«, rief er. »Du musst mich auf eine kurze Reise begleiten.«
»Was um Himmels willen ist los, lieber Freund?«, fragte ich erschrocken. Derart aufgeregt hatte ich Holmes noch nie erlebt.
»Pack Kleidung für eine Übernachtung ein«, sagte er, ohne meine Frage zu beantworten. »Und nimm deine alte Dienstwaffe mit. Es könnte Schwierigkeiten geben.«
»Wohin fahren wir?«, erkundigte ich mich.
»Nach Dublin«, lautete die knappe Antwort.
»Irland?« Ich war erstaunt. »Was wollen wir dort?«
Holmes’ Blick wirkte gehetzt. »Vor zehn Minuten erhielt ich ein zweites Telegramm. Mein Bruder Mycroft ist entführt worden.«
An dieser Stelle erlaube ich mir einen kurzen Exkurs in Holmes’ Familiegeschichte, die ich auf seine Bitte hin aussparte, wenn ich der englischen Öffentlichkeit von seinen Abenteuern berichtete. Dem interessierten Leser werden meine versteckten Hinweise sicherlich nicht entgangen sein, auch wenn ich, weil mein Freund darauf bestand, davon absah, die Sache detailliert zu beschreiben. Worauf ich hinaus will, ist, dass Holmes irischer, oder, genauer gesagt, anglo-irischer Abstammung war. Nicht ohne Grund fürchtete er, mit den diesbezüglich herrschenden Vorurteilen konfrontiert zu werden. Deshalb musste ich ihm versprechen, dafür zu sorgen, dass meine Berichte über die Fälle, die unmittelbar mit seiner irischen Herkunft in Verbindung stehen (zu denen auch der vorliegende zählt), erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden. In meinem Testament gibt es eine entsprechende Verfügung.
Sherlock Holmes’ Familie war seit dem siebzehnten Jahrhundert in Galway ansässig. Es war sein Onkel, Robert Holmes, der berühmte Kronanwalt, der in Irland das öffentliche Schulsystem einführte. Seinen Vornamen verdankt er der Familie seiner Mutter, die seit der Invasion Heinrichs II. in Irland in der Grafschaft Meath lebte. Holmes zeichnete sich am Trinity College in Dublin durch besondere Leistungen aus und setzte zusammen mit seinem nicht minder genialen Freund und Kommilitonen Oscar Wilde als Halbstipendiat sein Studium in Oxford fort. Als Ire galt sein gesteigertes Interesse den keltischen Sprachen, und einige Jahre später verfasste er unter anderem die Monografie »Chaldäische Ursprünge im kornischen Zweig der keltischen Sprachfamilie«.
Wir kannten uns erst kurz, als er mir eindrucksvoll vorführte, über welch ein ausgeprägtes Gefühl
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