Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Angelegenheiten aber die Entscheidungsgewalt behielten.
Vor fünf Jahren war der Gaekwar Savaji Rao III. an die Macht gelangt. Um die Wahrheit zu sagen, er hatte seinen Vorgänger mit Unterstützung der britischen Regierung entthront, denn die höheren Staatsbeamten in Delhi hatten keine besonders hohe Meinung von jenem Mann, der die Dreistigkeit besessen hatte, Colonel Phayre, den letzten Residenten, ermorden zu lassen. Sie wollten jedoch nicht den Eindruck erwecken, sich in die inneren Angelegenheiten von Baroda einzumischen. Das Erfolgsgeheimis der Briten in Indien bestand darin, dass sie den riesigen Subkontinent nicht allein regierten, sondern rund sechshundert Fürsten davon überzeugten, die Oberherrschaft des britischen Imperiums anzuerkennen. So wurde die Hälfte der Gesamtfläche Indiens und ein Viertel der Gesamtbevölkerung unter der »wohlwollenden« Aufsicht der Briten von einheimischen Erb-Fürsten regiert.
Seit Savaji Rao III. in Baroda an der Macht war, ging es friedlich zu in der wunderschönen Stadt mit ihren kunstvollen Bauwerken, ihren Palästen, üppig verzierten Toren, Parks und Prachtboulevards. Sie bildete das Verwaltungszentrum eines ertragreichen Baumwollanbaugebiets und einer florierenden Textilindustrie. Der Hafen, mit Zugang zu allen wichtigen Seewegen, sowie das gut ausgebaute Streckennetz der Eisenbahn machten Baroda zu einem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt auf dem indischen Subkontinent.
Nachdem das neue Regime etabliert war, benötigten die Briten hier einen Mann, der sich energisch für die Wahrung ihrer Interessen einzusetzen verstand. Die Wahl fiel auf Lord Chetwynd Miller, der bereits lange Jahre in der Verwaltung in Indien gedient hatte. Dies sollte sein letzter Einsatz in Indien sein, ehe er sich zur Ruhe setzte. Noch vor Ende des Jahres beabsichtigte er, nach Shrewsbury unweit der walisischen Grenze auf seine ländlichen Besitztümer zurückzukehren.
»Los, Chetwynd«, drängte Major Bill Foran vom Achten Infanterieregiment von Bombay, der für den Schutz der Interessen des Residenten sowie der in Baroda lebenden britischen Kaufleute verantwortlich war. Er war ein alter Freund von Lord Miller. »Schluss mit dem Katz-und-Maus-Spiel! Du kannst es doch selbst kaum erwarten, uns den Schatz zu zeigen!«
Wieder breitete sich ein Grinsen auf Lord Millers Zügen aus. Es wirkte ausgesprochen spitzbübisch. Er hob resigniert die Hände. Tatsächlich hatte er seine Gäste absichtlich hingehalten. Nun sollten sie endlich das Auge Shivas zu sehen bekommen.
Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen. Bis auf Bill Foran war ihm keiner seiner Gäste näher bekannt. Es war eine jener typischen Dinnerpartys in der Residenz, zu denen er jeden Briten von Rang und Namen, der sich gerade zufällig in Baroda aufhielt, einzuladen hatte. Lieutenant Tompkins, Millers Adjutant, hatte die Gästeliste für den heutigen Abend zusammengestellt.
Royston kannte er dem Namen nach. Der dunkelhaarige, verschlossen wirkende Mann dort drüben war Pater Cassian, ein katholischer Priester. Einen Missionar, dachte Lord Miller, stellt man sich gemeinhin anders vor. Er wusste, dass Cassian vielseitig interessiert war, nicht zuletzt an Hinduismus und indischer Mythologie.
Ihm gegenüber saß Sir Rupert Harvey, ein ansehnlicher Bursche, wenngleich er ein wenig liederlich wirkte. Im persönlichen Umgang galt er als barsch und überheblich. Er war erst kürzlich in Baroda eingetroffen und ging diversen, nicht genauer bekannten Geschäften nach.
Sein Nachbar war James Gregg, ein hochgewachsener Schotte, lethargisch und einsilbig, mit der seltsamen Angewohnheit, sein Gegenüber ausdruckslos anzustarren, als würde er durch den anderen hindurchblicken. Laut Gästeliste war er Bergbauingenieur. Früher am Abend hatte Tompkins bemerkt, dass er es sich, anders als die meisten Bergbauingenieure durchaus leisten konnte, im besten Hotel am Platze abzusteigen und mit Geld nur so um sich zu werfen.
Am anderen Ende der Tafel, ein wenig entfernt von den übrigen, saß der einzige Einheimische unter den Gästen, Inspektor Ram Jayram. Obwohl er Bengale war, hatte ihn die Regierung von Baroda zum Chef der Kriminalpolizei ernannt. Mit seinem trockenen Humor und einem unerschöpflichen Repertoire faszinierender Anekdoten war er bei allen Abendveranstaltungen ein gerngesehener Gast, der jegliche Langeweile vertrieb. Heute jedoch war er aus einem anderen Grund zugegen. Sein Büro hatte den Tipp bekommen, dass unbekannte Diebe
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