Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Topcliff. Er lag auf dem Rücken, ein Arm über den Kopf ausgestreckt. Die Augen waren geöffnet und die Gesichtszüge in einem Ausdruck des Staunens erstarrt. Die einzige Kleidung, die der Tote trug, war ein langes Leinenhemd, das wohl einmal blütenweiß, aber jetzt mit blutroten Flecken übersät war. Es brauchte keinen Medikus, um festzustellen, dass der junge Mann infolge seiner Stichverletzungen in Brust und Bauch verstorben war. Neben der Leiche lag die mutmaßliche Tatwaffe, ein langes Messer mit beinernem Griff, wie man es zum Tranchieren benutzt. Es war blutverschmiert.
Topcliff blickte leidenschaftslos auf den Toten hinab. In London war der Tod an der Tagesordnung, ganz gleich, ob rechts oder links der Themse, und gerade in den Straßen und Gassen unweit des Flussufers kam es häufig zu gewaltsamen Todesfällen.
»Ihr erwähntet vorhin, sein Name sei Bertrando Emillio? Das klingt in meinen Ohren fremdländisch. War er Italiener?«
Burbage schüttelte verneinend den Kopf. »Er war ein Engländer wie wir alle, Herr. Bertrando Emillio war sein Künstlername, unter dem er in diesem Theater auftrat.«
Meister Topcliff verlor allmählich die Geduld. »Allmächtiger! Dieses Durcheinander missfällt mir! Erst behauptet man, der Tote sei der Graf von Rousillon. Dann heißt es, er sei ein Schauspieler namens Bertrando Emillio gewesen. Wer war er wirklich?«
»Meiner Treu, Herr, sein Name lautet Herbert Eldred, und er kommt aus Cheapside! Doch wenn er auf der Bühne stand, war er bei seinem Publikum als Bertrando Emillio bekannt. Es ist gang und gäbe unter uns Schauspielern, einen Künstlernamen zu führen.«
Topcliff schien diese Erklärung keineswegs zu besänftigen. »Wer hat ihn denn überhaupt gefunden?«, knurrte er missmutig, und Drew kniete sich neben die Leiche, um sie genauer zu untersuchen. Im Brust- und Bauchbereich waren insgesamt fünf Stichwunden, jede von ihnen tief genug, um zum Tode zu führen. Haut und Gewebe waren an den Rändern eingerissen, als hätte der Täter wie im Rausch zugestochen und das Messer nach jedem Stich hektisch herausgezogen.
Schon wollte Drew sich erheben, da fiel sein Blick auf einige Papiere am Boden, die teilweise vom Körper des Toten verdeckt waren. Er drehte den Leichnam auf die Seite, um an die Papiere heranzukommen. Dabei sah er, dass sich zwischen Bertrandos Schulterblättern eine weitere Stichwunde befand. Er sammelte die Blätter ein, legte den Toten wieder auf den Rücken und stand auf.
»Wer hat ihn gefunden?«, wiederholte Topcliff.
»Ich war es«, gestand Meister Burbage unwillig. »Wir waren bei der Generalprobe des Stücks, in dem Bertrando den Grafen von Rousillon spielen sollte. Die Uraufführung war für diesen Samstagnachmittag geplant. Bei der Probe trugen alle ihre Kostüme. Der Tag, an dem Meister Shakespeare beschloss, das Stück ausgerechnet heute uraufzuführen, muss wahrhaftig unter einem schlechten Stern gestanden haben!«
Hardy Drew meldete sich zum ersten mal zu Wort: »Ihr inszeniert ein neues Stück von William Shakespeare?«
Er hatte sich bereits vergewissert, dass es sich bei den Papieren um ein Theaterstück handelte, genauer gesagt um die Zeilen, die Bertrando hätte sprechen sollen.
»In der Tat. Eine beschwingte Komödie mit dem Titel »Ende gut, alles gut«, entgegnete Burbage bedrückt.
»Hoffen wir, dass es den ergebenen Untertanen Ihrer Majestät besser gefällt als das vorherige Stück«, versetzte Drew. Der Konstabler warf ihm einen verärgerten Blick zu, ehe er sich wieder an Burbage wandte. »Die Komödie ist für Euren Darsteller zur Tragödie geworden, Herr. Sein Ende war alles andere als gut.«
Burbage seufzte theatralisch. »Das müsst Ihr mir nicht sagen, Topcliff. Die Vorstellung wird ausfallen.« Plötzlich sah er erschrocken auf und rief: »Meiner Treu! Meister Shakespeare kommt eigens aus Stratford, um der Uraufführung beizuwohnen! Er wird schon auf dem Weg sein. Wie soll ich ihm bloß beibringen, dass die Vorstellung nicht stattfinden kann?«
»Ist es nicht üblich, eine Zweitbesetzung zu haben?«, erkundigte sich Hardy Drew.
»Normalerweise schon«, räumte Burbage ein. »Doch Bertrando hütete seine Rolle derart eifersüchtig, dass er der Zweibesetzung nicht einmal erlaubte, bei den Proben anwesend zu sein. Bis heute Nachmittag wird es der Schauspieler nicht schaffen, die Rolle einzustudieren.«
Gelangweilt von den Problemen des Regisseurs, erkundigte sich Topcliff: »Was wisst Ihr über den
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