Das Fluestern des Todes
Gedanken abzulenken, die sich wieder in ihrem Hinterkopf breitmachten. In der Ferne hörte man Donner, und manchmal rückte das Unwetter so nah, dass sie besorgt aus dem Fenster schauten.
Als Ella frühmorgens wach wurde, hatte sich der Sturm noch immer nicht gelegt. Sie war abrupt aus einem Traum gerissen worden, der eigentlich nur aus einer dramatischen Abfolge gewalttätiger Flashbacks bestand. Als sie aufwachte, war ihr Kiefer verkrampft, und ihr Herz raste.
Sie schaute in die samtene Dunkelheit des Raumes, hörte, wie Chris neben ihr atmete, erinnerte sich wieder, wo sie war. Es war das zweite Mal, dass sie wach wurde, seit sie die Wahrheit erfahren hatte – und der Schock schien bereits ein wenig seine Wirkung zu verlieren, machte nun aber der bleiernen Gewissheit Platz, dass dies ihre neue Realität war und ihr früheres Leben nur ein Traum.
Im Schutz der Nacht erlaubte sie sich, ihre Gesichter zu visualisieren, aber kaum dass sie an Ben dachte, füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen, und sie glaubte, erneut zusammenzubrechen. Warum gerade Ben? Warum trauerte sie um Ben mehr als um ihre Eltern? Sie liebte sie alle ohne Vorbehalt, aber es war Ben, dessen Verlust sie am härtesten traf – vielleicht weil sie seinen Tod vorher nie auch nur in Erwägung gezogen hatte, vielleicht weil er noch gar nicht wirklich gelebt hatte, noch nicht auf dem College war, noch nie allein verreist war. Bis zu seinem Tod hatte er ja nicht einmal eine richtige Freundin gehabt.
Sie sprang aus dem Bett, um den heimtückischen Gedanken zu entkommen, die im Bett auf sie lauerten. Sie tastete sich zum Bad und wusch ihr Gesicht – und zuckte zusammen, als es direkt über dem Haus donnerte, dass die Fundamente vibrierten.
Als sie das Bad wieder verlassen wollte, musste sie lächeln. An der Rückseite der Tür hingen zwei strahlend weiße Bademäntel, wie im Hotel. Sie wünschte, sie würde Psychologie studieren. Dann hätte sie vielleicht eine Erklärung dafür, warum ein Mann, der eigentlich nie Gäste hat, so viel Aufwand in seinem Gästezimmer betrieb.
Sie zog sich einen der Bademäntel über, lauschte noch einmal Chris’ regelmäßigem Atmen und ging dann hinauf zum Wohnbereich. Eine kleine Lampe brannte, und als sie oben angekommen war, sah sie, dass Lucas auf dem Balkon stand.
Er drehte sich kurz um, um nachzusehen, wer gekommen war, schaute dann aber wieder in den Sturm hinaus. Sie trat auf den Balkon. »Ich störe doch nicht, oder?«
»Nein.« Instinktiv erwartete sie, dass er nun eine typische Small-Talk-Frage stellen würde – etwa, warum sie nicht schlafen könne. Dass ihm jegliche Kommunikationsfähigkeit abging, überraschte sie immer wieder aufs Neue. Eine Sekunde lang wurden sie von einem Blitz so hell erleuchtet, als stünden sie im Stroboskop-Gewitter einer Diskothek. Der Donner explodierte über ihren Köpfen – wie der Nachhall eines Jets, der die Schallmauer durchbricht.
Als der Donner verklungen war, sagte Lucas: »Ein ähnliches Unwetter hat getobt, als Mary Shelley mit dem Schreiben von Frankenstein begann. Am Genfer See. Und genau am gleichen Abend fing Polidori an, einen der Vorläufer von Dracula zu schreiben.«
»Ja, davon hab ich gehört. Es war Byrons Idee. Manche behaupten ja sogar, dass Byron das Buch selbst geschrieben habe.«
»Wirklich?« Er drehte sich um und schien von der Information überrascht zu sein. »Ich habe Der Vampyr nie gelesen. Konnte auch mit Dracula nicht viel anfangen. Aber Frankenstein hingegen habe ich geliebt.«
»Wirklich? Ich musste mich da richtig durchbeißen.«
Er antwortete nicht, schien sich plötzlich wieder seiner Verantwortung als Hausherr bewusst zu werden. »Möchtest du ein Glas Milch oder so?«
»Was trinken Sie denn?«
»Cognac. Willst du einen?«
»Bitte.« Sie folgte ihm hinein und nahm im Licht der kleinen Lampe Platz.
Neben der Lampe befand sich ein Foto in einem schlichten Holzrahmen. Man konnte es leicht übersehen, und sie nahm es diesmal nur deshalb wahr, weil der Rest des Raumes im Dunkeln lag. Es war ein Mädchen, etwa in ihrem Alter, vielleicht ein wenig älter, ausnehmend hübsch und mit langen blonden Haaren. Das Foto musste am Meer oder zumindest an einem See entstanden sein. Auf dem Gesicht des Mädchens lag ein sorgloses Lächeln, als wäre sie gerade beim Lachen fotografiert worden.
Es schien das einzige Indiz im ganzen Haus, dass Lucas tatsächlich so etwas wie zwischenmenschliche Beziehungen pflegte, dass es Menschen gab, die
Weitere Kostenlose Bücher