Das Fluestern des Todes
Sie spürte Wärme und das Gefühl von Sicherheit, während sich der Wagen durch die verregnete Landschaft schob und der nasse Nebel in der Luft hing. Fast hatte sie den Eindruck, als würden sie die zerfaserten Ränder der Wolken passieren.
»Tut mir leid, was mit deiner Familie passiert ist.« Sie schaute ihn überrascht an, sogar ein wenig berührt, auch wenn es nur eine höfliche Floskel war, die man eigentlich schon vor Stunden hätte erwarten können. Aber nachdem sie ihn nun schon seit einem Tag kannte, kam sie zur Überzeugung, dass es für Lucas fast schon so etwas wie ein Quantensprung war, über irgendetwas Bedauern oder Trauer auszudrücken.
»Danke. Ich weiß es zu schätzen.« Sie musste plötzlich an den heutigen Morgen denken, als er ihr mit seinen Fingern behutsam das Blut vom Gesicht gewischt hatte. Sie stand in diesem Moment zu sehr unter Schock, um es wirklich zu realisieren, aber in der Erinnerung wurde ihr nun auch klar, dass sie selbst etwas vergessen hatte – ein Versäumnis, das vielleicht entschuldbar war, aber trotzdem revidiert werden sollte. »Und, Lucas, ich danke Ihnen.« Er schaute verunsichert herüber. »Dafür, dass Sie mein Leben gerettet haben.«
»Das ist mein Job.«
Das war’s, die Tür war wieder geschlossen. Doch sie hatte sich nicht getäuscht: Es gab diese andere Person, sie existierte – irgendwo da draußen. Sie schwieg nun ebenfalls, ließ sich von der Musik treiben und beobachtete die Welt, die an ihrem Fenster vorbeiflog. Sie wollte sich nur noch auf den flüchtigen Augenblick konzentrieren, weil sie instinktiv spürte, dass sie zu leer und ausgelaugt war, um ihre Gedanken unkontrolliert kreisen zu lassen.
Der Zeitpunkt, an dem sie diesen Fragen wieder ins Auge sehen musste, würde ohnehin schneller kommen, als ihr lieb war. Sie würde sich damit beschäftigen müssen, auf welche Weise sie gestorben waren, wer sie in ihrem früheren Leben wirklich waren – nicht zuletzt auch, wie sie mit einer Zukunft umgehen wollte, der jegliche Sicherheit und Selbstverständlichkeit abhandengekommen war.
All diese Dinge ließen sich nicht leugnen, aber auch wenn es vielleicht egoistisch war: Für ein paar Stunden wollte sie einfach so tun, als wäre das alles niemals passiert. Nick Drakes »River Man« lief gerade, und in ihrer Erinnerung würde sie den Song immer mit diesem Augenblick verknüpfen, mit Lucas und Chris auf der Fahrt durch die Alpen – und mit nichts anderem.
Sie passierten ein kleines Dorf, dann wechselten sich Felder und dichte Wälder unmittelbar ab. Sie hatte seit dem Dorf nur noch zwei Häuser gesehen, beide behaglich erleuchtet, und zehn Minuten später bogen sie auf einen Feldweg, der nach einigen Hundert Metern zu seinem Haus führte.
Als sie ausstieg, verstand sie sofort, warum Lucas sich von diesem Ort angezogen fühlte. Es hatte aufgehört zu regnen, und die kühle Luft war geradezu mit Händen greifbar. Es war so still, als hielte die Welt den Atem an. Das Haus selbst lag im Schatten. Der Silhouette und dem umlaufenden Balkon nach zu schließen schien es ein klassisches Alpenhaus zu sein, wirkte mit seinen Glas- und Holzfronten aber trotzdem modern.
»Haben Sie das gebaut?«
Er stand am Kofferraum und holte gerade das Gepäck heraus.
»Nein. Der Mann, der es gebaut hat, ist gestorben, und seine Frau wollte hier nicht alleine wohnen. Mein Glück.« Sie gingen aufs Haus zu, doch nach ein paar Schritten drehte er sich noch mal zu ihr um. »Er starb an Krebs.«
Sie folgten ihm zur Treppe und einer kleinen Veranda, wo er das Licht anstellte und an einer offensichtlich äußerst komplizierten Alarmanlage hantierte. Er führte sie in ein großes Zimmer: Wohnraum, Esszimmer und Küche gingen ineinander über und belegten das gesamte Obergeschoss. Überall an den Wänden standen dicht gefüllte Bücherregale.
»Ich bin eigentlich nicht auf Besucher eingestellt, aber macht es euch bequem.« Er deutete auf eine eingebaute Treppe. »Gästezimmer und Bad sind unten, im hinteren Bereich.«
Ella schaute lächelnd zu Chris hinüber und hielt ihre Tasche hoch.
»Klar, ich bring das Gepäck nach unten.« Er wandte sich zu Lucas: »Soll ich Ihre Sachen auch gleich mitnehmen?«
Lucas schien amüsiert. »Gerne. Mein Schlafzimmer geht nach vorne raus.«
Ella schlenderte durch den Raum, der erstaunlich aufgeräumt war. Auf einem Seitentisch lagen ein paar ungeöffnete Briefe, was wohl bedeutete, dass jemand in seiner Abwesenheit nach dem Rechten schaute. Sie
Weitere Kostenlose Bücher