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Das Fluestern des Todes

Das Fluestern des Todes

Titel: Das Fluestern des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Wignall
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dass Hatto geschlafen hatte und beim ersten Klingeln nicht rechtzeitig ans Telefon gekommen war. Beide Male war er auf dem Anrufbeantworter gelandet. Er würde es am Morgen noch mal versuchen, konnte ein ungutes Gefühl aber nicht abschütteln.
    Er ging in Richtung Hotel – unschlüssig, ob er nicht noch etwas warten sollte. In den fünf Tagen, in denen er diese Kinder beobachtet hatte, waren sie ihm ans Herz gewachsen – ja, er beneidete sie fast: unbeschwerte Jugend, junge Liebe, die ganze Chose. Aber es war eine Sache, Leute aus sicherer Entfernung zu mögen – eine andere, mit ihnen auf engstem Raum eingesperrt zu sein.
    Abgesehen davon brauchten sie wahrscheinlich ohnehin etwas Zeit für sich selbst, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie momentan in akuter Gefahr schwebten. Er würde sich noch eine halbe Stunde gönnen, einen Drink nehmen und dann zurückgehen. Wenn er Glück hatte, waren sie zu diesem Zeitpunkt ja schon todmüde.
    Er erreichte den Domplatz und ging zu einem Irish Pub mit einer winzigen eingezäunten Terrasse, auf der vielleicht ein Dutzend Gäste Platz fanden. Jetzt saßen nur noch drei Leute draußen. Er ging in die Bar, wo es weitaus belebter war, bestellte sich ein Glas Rotwein und kam wieder heraus.
    Die drei – Italiener und offensichtlich Intellektuelle – schauten ihn kurz an, setzten ihr Gespräch dann aber fort. Er lauschte eine Weile dem melodischen Rhythmus ihrer Sprache, ließ ihre Unterhaltung dann aber mit der Geräuschkulisse aus der Bar verschmelzen.
    Noch immer schlenderten Touristen über die Piazza, aber die meisten von ihnen schwiegen und reckten auch nicht mehr ihre Hälse – als hätten sie im kühlen Dunkel der Nacht vergessen, wo sie überhaupt waren. Der Dom, hoch über ihnen, schien ebenfalls den Frieden mit sich gemacht zu haben und strahlte eine noble Gelassenheit aus. So gefiel Lucas eine Stadt am besten.
    Er wünschte sich, er hätte sein Buch mitgebracht. Er hatte nur noch fünfzig Seiten zu lesen und hätte es heute abschließen können – hier in der Stille, mit seinem Glas Rotwein. Es hätte wohl einen seltsamen Eindruck gemacht, die beiden wegen einer vermeintlich dringenden Angelegenheit allein zu lassen, beim Hinausgehen aber Lektüre mitzunehmen. Davon abgesehen: Viel gelesen hätte er ohnehin nicht.
    Er hatte zehn Minuten gesessen, als eine Gruppe mit fünf, sechs Engländern und Amerikanern einfiel. Sie waren in bester Stimmung, nicht betrunken, aber laut und aufgekratzt. Sie nahmen die Terrasse mit einer Chuzpe in Beschlag, die die italienischen Intellektuellen geradezu einschüchterte. Nachdem die drei vorsichtig ihre Verachtung zur Schau gestellt hatten, widmeten sie sich wieder ihrem Gespräch.
    Lucas verspürte ebenfalls kein Bedürfnis, sein Nervenkostüm von den Neuankömmlingen strapazieren zu lassen. Als eins der amerikanischen Mädchen fragte, ob sie einen unbenutzten Stuhl von seinem Tisch nehmen könne, lächelte er nur und machte eine entsprechende Handbewegung. Er wollte vermeiden, dass man an seiner Aussprache womöglich merken würde, dass Englisch seine Muttersprache war.
    Einer aus der Gruppe war in die Bar gegangen und kam kurz darauf mit einem Tablett voller Getränke zurück. Er mimte den Clown und lief auf die leere Piazza, als sei er ein tatteriger Kellner. Sie riefen nach ihm, doch er machte weiter und näherte sich Lucas, um ihm radebrechend einen Drink anzubieten.
    Der Typ war offensichtlich der Anlass, dass sie alle so guter Laune waren. Und er war tatsächlich ziemlich witzig, doch Lucas war einfach nicht in der Stimmung. Er leerte sein Glas und drückte sich an ihnen vorbei, um hinaus auf die Piazza zu gehen. Er hörte noch, wie eins der Mädchen sagte: »Du hast ihn verschreckt.«
    Der Clown reagierte mit weinerlicher Stimme: »Bitte, geh nicht weg!«
    Wäre er vor zehn Jahren in eine derartige Situation geraten, hätte Lucas die Ruhe bewahrt, indem er sich daran erinnerte, dass er am längeren Hebel saß. Er hätte nur seine Waffe zücken und sie seinem Gegenüber unter die Nase halten müssen: Das ist wohl nicht mehr so lustig, oder? Aber er war nicht mehr der Alte. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, bei einer derartigen Posse mitspielen zu wollen, aber er hatte sich inzwischen eine zenähnliche Gelassenheit zugelegt – und tröstete sich mit dem Gedanken, dass all diese Leute eines Tages tot sein würden.
    Als er zum Hotelzimmer zurückkam, blieb er eine Minute vor der Tür stehen und lauschte. Sie

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