Das Foucaultsche Pendel
großen Tageszei-tung. Man hätte meinen können, man wäre in Petersburg zur Zeit des jungen Schklowski. Lauter Majakowskis und kein einziger Schiwago. Belbo entzog sich nicht dem allgemeinen Du, aber er gab ihm einen unverkennbar verächtlichen Beiklang. Er sagte du, um zu demonstrieren, daß er auf Vulgarität mit Vulgarität reagierte, daß aber zwischen Vertraulichkeiten und Vertrautheit ein Abgrund klaffte. Nur selten und nur wenige Leute hörte ich ihn mit Zuneigung duzen, oder mit Leidenschaft — nur Diotallevi und ab und zu eine Frau. Zu denen, die er schätzte, ohne sie lange zu ken-
* Am Ende erschließt man kabbalistischerweise aus vinum nichts andere als VIS
NUMerorum, die Kraft der Zahlen, von denen diese Magie abhängt 73
nen, sagte er Sie. So tat er‘s mit mir während der ganzen Zeit unserer Zusammenarbeit, und ich war stolz auf das Privileg.
»Und was treiben Sie?« fragte er mich also mit, wie ich jetzt weiß, Sympathie.
»Im Leben oder im Theater?« fragte ich mit einem Rund-blick auf Pilades Bühne.
»Im Leben.«
»Ich studiere.«
»Gehen Sie an die Uni oder studieren Sie?«
»Sie werden’s nicht glauben, aber das widerspricht sich nicht. Ich beende gerade eine Dissertation über die Tempelritter.«
»Oh, was für ein scheußliches Thema«, sagte er. »Ist das nicht eher was für Irre?«
»Ich studiere die echten. Die Prozeßdokumente. Aber was wissen Sie denn von den Templern?«
»Ich arbeite in einem Verlag, und in einen Verlag kommen Weise und Irre. Das Metier des Lektors ist, auf Anhieb die Irren zu erkennen. Wenn einer anfängt, von den Templern zu reden, ist es meistens ein Irrer.«
»Wem sagen Sie das. Ihr Name ist Legion. Aber nicht alle Irren reden von den Templern. Woran erkennen Sie die anderen?«
»Berufserfahrung. Ich will’s Ihnen erklären, Sie sind noch jung. Übrigens, wie heißen Sie eigentlich?«
»Casaubon.«
»War das nicht eine Romanfigur in Middlemarch?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls war’s, glaube ich, auch ein Philologe der Renaissance. Aber ich bin nicht mit ihm ver-wandt«
»Lassen wir das für ein andermal. Trinken Sie noch was?
Pilade, noch mal zwei, danke. Also passen Sie auf. In der Welt gibt es die Idioten, die Dämlichen, die Dummen und die Irren.«
»Sonst nichts?«
»Doch, uns zwei zum Beispiel, oder jedenfalls — ohne wen zu beleidigen — mich. Aber letzten Endes, genau besehen, gehört jeder Mensch zu einer von diesen Kategorien. Jeder von uns ist hin und wieder idiotisch, dämlich, dumm oder irre. Sagen wir, normal ist, wer diese Komponenten einigermaßen vernünftig mischt. Es sind Grundtypen.«
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»Idealtypen, wie die Deutschen sagen.«
»Bravo. Sie können auch deutsch?«
»Es reicht gerade so für die Bibliographien.«
»Wer zu meiner Zeit deutsch konnte, promovierte nicht mehr. Er verbrachte seine Tage damit, deutsch zu können.
Heute passiert das, glaube ich, mit dem Chinesischen.«
»Ich kann’s nicht gut genug, drum promoviere ich. Aber zurück zu Ihrer Typologie. Wer ist dann ein Genie, so wie Einstein zum Beispiel?«
»Genie ist, wer eine Komponente in schwindelerregende Höhen treibt, indem er sie mit den anderen nährt.«
Er trank einen Schluck und prostete einem Mädchen zu, das gerade vorbeikam: »Ciao, Bellissima, hast du noch mal Selbstmord versucht?«
»Nein«, antwortete sie. »Jetzt leb ich in einer Kommune.«
»Na prima«, sagte Belbo. Dann drehte er sich wieder zu mir: »Man kann auch kollektiven Selbstmord begehen, meinen Sie nicht?«
»Aber was ist mit den Irren?«
»Ich hoffe, Sie nehmen meine Theorie nicht für reines Gold. Ich kann nicht die ganze Welt erklären. Ich sage nur, was ein Irrer für einen Verlag ist. Die Theorie ist ad hoc entwickelt, okay?«
»Okay. Die nächste Runde ist meine.«
»Okay. Pilade, bitte mit weniger Eis. Sonst geht’s direkt ins Blut.
Also. Der Idiot redet gar nicht, er sabbert bloß, er ist spastisch. Er pflanzt sich den Pudding auf die Stirn, weil er seine Bewegungen nicht koordinieren kann. Er geht auf der falschen Seite durch die Drehtür.«
»Wie macht er das?«
»Er schafft das. Drum ist er ja ein Idiot. Er interessiert uns hier nicht, man erkennt ihn sofort, und er kommt auch nicht in den Verlag. Lassen wir ihn, wo er ist.«
»Gut, lassen wir ihn.«
»Dämlich zu sein ist komplexer. Es ist ein soziales Verhalten. Dämlich ist, wer immer neben dem Glas redet.«
»Wie meinen Sie das?«
»So.« Er stieß den gestreckten Zeigefinger neben sein
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