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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Anrufungen der Engel und der Jungfrau. Volkstümliche Literatur für diese schwarzhäutigen Mystiker hier. Aber es handelt sich um den heiligen Cyprianus von Antiochia, über den es eine immense Literatur im Silbernen Zeitalter gibt.
    Seine Eltern wollten, daß er alles lerne und wisse, was in der Erde, in der Luft und im Wasser der Meere ist, und so schickten sie ihn in die fernsten Länder, damit er alle Mysterien 221
    erfahre, die Erzeugung und die Vergiftung der Kräuter kennenlerne und die Heilkräfte der Pflanzen und der Tiere, nicht die der Naturgeschichte, sondern die der verborgenen Wissenschaft tief im Innern der fernen und archaischen Traditionen. Und Cyprianus weiht sich in Delphi dem Gott Apoll und der Dramaturgie der Schlange, er wohnt den Mysterien des Mithra bei, als Fünfzehnjähriger auf dem Olymp, von fünfzehn Hierophanten geführt, erlebt er die Riten zur Beschwörung des Fürsten dieser Welt, um dessen Machen-schaften zu bannen, in Argos wird er in die Mysterien der Hera eingeweiht, in Phrygien erlernt er die Kunst der Leber-schau, und bald gibt es nichts mehr auf der Erde, im Wasser und in der Luft, was ihm unbekannt wäre, ob Hirngespinst oder Gegenstand der Weisheit oder Kunstgriff irgendwelcher Art, nicht einmal die Kunst, durch Zauber die Schrift zu verändern. In den unterirdischen Tempeln von Memphis lernt er, wie die Dämonen mit den irdischen Dingen kommunizieren, welche Orte sie verabscheuen, welche Dinge sie lieben und wie sie die Finsternisse bewohnen, welche Widerstände sie in gewissen Domänen leisten, wie sie sich der Seelen und der Körper bemächtigen können und welche Wirkungen sie dann erzielen, welche Formen von höherer Erkenntnis, Gedächtnis, Schrecken, Illusion, und die Kunst, Erdbeben hervorzurufen und die Ströme des Erdinnern zu beeinflussen... Dann, leider, bekehrt er sich, aber etwas von seinem Wissen bleibt erhalten, vererbt sich, und nun finden wir es hier wieder, hier in den Mündern und Geistern dieser zerlumpten Schwarzen, die ihr Götzenanbeter nennt. Ja, meine Freundin, noch vor kurzem haben Sie mich angesehen, als wäre ich ein ci-devant. Wer lebt in der Vergangenheit? Sie, die Sie diesem Lande die Greuel des Jahrhunderts der Industrie und der Arbeitermassen schenken wollen, oder ich, der sich wünschte, unser armes Europa fände zurück zur Natürlichkeit und zum Glauben dieser Sklavenabkömmlinge?«
    »Cristo!« schnaubte Amparo böse. »Sie wissen doch selber, das ist nur eine Art, sie ruhig zu halten!«
    »Nicht ruhig. Fähig, sich noch in der Erwartung zu üben.
    Ohne die Fähigkeit zur Erwartung gibt es auch kein Paradies, habt ihr Europäer das nicht gelehrt?«
    »Seit wann bin ich eine Europäerin?«
    »Es kommt nicht auf die Hautfarbe an, entscheidend ist 222
    der Glaube an die Tradition. Um einem vom Wohlstand pa-ralysierten Abendländer die Fähigkeit zur Erwartung wie-derzugeben, müssen diese hier zahlen, vielleicht auch leiden, aber sie kennen noch die Sprache der Naturgeister, der Lüfte, der Wasser, der Winde...«
    »Ihr beutet uns ein weiteres Mal aus.«
    »Ein weiteres Mal?«
    »Ja, das müßten Sie doch 1789 gelernt haben, Herr Graf.
    Wenn wir es satt haben — zack!« Und lächelnd wie ein Engel fuhr sie sich mit der Kante ihrer gestreckten, wunderschö-
    nen Hand quer über die Kehle.
    Von Amparo begehrte ich sogar die Zähne.
    »Wie dramatisch«, sagte Agliè, während er seine Tabatiere aus der Tasche zog und sie liebevoll zwischen den Händen drehte. »So haben Sie mich also erkannt? Aber 1789 waren es nicht die Sklaven, die Köpfe rollen ließen, sondern die braven Bürger, die Sie doch verabscheuen müßten. Und außerdem, Köpfe hat der Graf von Saint-Germain in all den Jahrhunderten viele rollen sehen und viele auch wieder auf den Hals zurückkehren... Aber schauen Sie, da kommt die Mãe-de-santo, die Ialorixá.«
    Die Äbtissin des Terreiro begrüßte uns ruhig, herzlich, einfach und kultiviert. Sie war eine große Negerin mit strahlendem Lächeln. Auf den ersten Blick hätte man sie für eine Hausfrau gehalten, aber als wir miteinander zu sprechen begannen, verstand ich, warum Frauen dieser Art das kulturelle Leben von Salvador dominieren konnten.
    »Diese Orixás, sind das eigentlich Personen oder Kräfte?«
    fragte ich sie. Die Mãe-de-santo antwortete, es seien Kräfte, gewiß, Naturkräfte, Wasser, Wind, Laub, Regenbogen. Doch wie solle man die einfachen Leute daran hindern, sie als Krieger, Frauen, Heilige der katholischen

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