Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
für Geräusche? Hören Sie die auch? Da knackt immer was.«
»Das ist nichts. Mach dir keine Gedanken. Das sind nur Tiere.«
»Ob es hier auch Wölfe gibt?«, fragte Adrian, ohne zu wissen, wie weit ins Schwarze er damit getroffen hatte.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, meinte Talbot. »Aber wenn ja, haben wir von denen nichts zu befürchten.« Der Junge hielt sich noch immer ganz ordentlich, fand Talbot. Aber er war erfahren genug, um zu wissen, dass der mentale Zusammenbruch noch kommen würde. Das war immer so. Bei dem einen früher, bei dem anderen später.
Er wickelte das Brot, die Mettwurst und die Gurke aus und legte beides auf einen Plastikteller, den er auf einem großen Findling abstellte, der dicht bei den Büschen lag und ihnen als Tisch dienen sollte. Mit dem schwarzen Taschenmesser seines Großvaters, das er stets bei sich trug, schnitt er ein paar dicke Scheiben Wurst und Gurke ab. Dann holte er eine Flasche Gin hervor. Betont langsam schraubte er sie auf und verharrte einen Moment reglos, ehe er sie hastig an den Mund führte und einen großen Schluck nahm.
»Mann, Sie haben echt ein schweres Alkoholproblem«, sagte Adrian.
»Glaub mir, Junge«, entgegnete Talbot und wischte sich mit dem Handrücken die Lippen, »die Probleme sind weitaus schwerer, wenn ich nicht trinke. Hast du ein Problem damit?«
Adrian warf ein Bündel trockener Zweige ins Feuer und sah zu, wie sie knisternd von den Flammen verschlungen wurden. Statt einer Antwort fragte er: »Was haben Sie eigentlich im Haus meiner Tante gesucht? Ich meine, Sie sind da immerhin einfach so eingedrungen.«
Seit sie Ingolstadt verlassen hatten, hatte Adrian immer wieder danach gefragt, was im Haus seiner Tante geschehen war, doch Talbot war es stets gelungen, ihn auf später zu vertrösten, bis er schließlich eingeschlafen war. Nun gab es keinen Aufschub mehr, er musste dem Jungen die Wahrheit sagen. Zumindest so viel, dass Adrian wusste, woran er war.
»Es ging um deinen Koffer«, sagte er. »Ich hatte den Auftrag, ihn abzufangen und meiner Auftraggeberin zu überbringen.«
Adrian sah auf. »Und wieso? Sind Sie Geheimagent oder was?«
»Das war ich mal.«
»Echt?«
»Ja, echt.« Talbot nickte. »Ist aber schon eine ganze Weile her. Seit ein paar Jahren arbeite ich als Privatermittler.«
»Und weswegen müssen wir jetzt in die Schweiz fahren?«, fragte Adrian.
»Das verstehst du sowieso nicht.«
»Na toll, Sie halten mich also für ein Baby oder so was.«
»Nein, tue ich nicht.«
»Dann sagen Sie endlich, was los ist«, drängte Adrian. »Das ganze Zeug von wegen Frankenstein und so nehme ich Ihnen nämlich nicht ab. Was ist denn mit dieser Villa Diodingsda, von der Sie geredet haben und wo wir unbedingt hinfahren müssen?«
»Ich hab schon mal versucht, es dir zu erklären. Ich glaube, als Mary Shelley damals den Frankenstein schrieb, hat sie sich das meiste von der Story nicht selbst ausgedacht.«
»Und was hat diese Villa damit zu tun?«
»Mary Shelley hielt sich 1816 als junges Mädchen dort auf«, erklärte Talbot. »Sie verbrachte die Sommermonate damals gemeinsam mit ihrer Schwester, Lord Byron (nebenbei bemerkt der berühmteste Dichter seiner Zeit) und einigen anderen in der Villa Diodati. Im Jahr zuvor waren bei einem gewaltigen Vulkanausbruch in Indonesien solch riesige Mengen Staub in die Atmosphäre gespuckt worden, dass der Himmel auch 1816 noch für Monate verdunkelt war und kaum die Sonne durchkam.«
»Fast wie beim Aussterben der Dinosaurier, stimmt’s?«
»So ähnlich.« Talbot lächelte nachsichtig. »Das Jahr 1816 ging als ›das Jahr ohne Sommer‹ in die Geschichte ein. Selbst im Juli und August fiel in Teilen Europas Schnee. Mary und ihre Freunde waren gezwungen, die meiste Zeit im Haus zu verbringen. Um sich die Langeweile zu vertreiben, erfanden sie Gruselgeschichten und Mary schrieb den Roman Frankenstein – so weit die bekannte Geschichte. Glaubt man aber den Dokumenten im Koffer, hat es Frankenstein und sein Geschöpf wirklich gegeben. Wenn die Papiere echt sind, schuf Dr. Victor Frankenstein – so wie im Roman – tatsächlich ein Monster aus Leichenteilen und belebte es. Wie es scheint, verwahrte Mary Victors Aufzeichnungen bis zu ihrem eigenen Tod. Und ich denke, jemand ist jetzt hinter diesen Aufzeichnungen her. Das heißt, hinter dem Geheimnis, Leben zu spenden oder besser gesagt: Gott zu spielen.«
»Was da im Haus mit meiner Tante passiert ist … Sie denken, das hat alles mit
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