Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
das ganze Panorama geringschätzig als »eine von diesen kitschigen Musicalfilmkulissen, die du so liebst, Maxwell«. Purdy schluckte. Romantik war augenscheinlich nicht so ihr Ding.
Ohne Umwege lenkte Millycent den Van die gewundenen, engen Straßen jenen Hügel hinauf, an dessen Hang dem Navigationscomputer zufolge die Villa Diodati lag.
Unweit der Villa befand sich im Chemin de Ruth ein Besucherparkplatz, und genau den steuerte Millycent jetzt an. Sie lenkte den Van in eine schmale Parkbucht am Rande des Parkplatzes. Dort waren sie vor allzu neugierigen Blicken sicher. Ihr Standort war von der Straße aus kaum zu sehen, und trotzdem befanden sie sich in Sichtweite der Villa Diodati. Die Villa selbst war ein wunderschönes Gebäude im italienischen Stil und von mehreren Seiten aus einzusehen.
Hier würden sie bleiben. Noch war alles ruhig. Wenn Talbot kam, würde er es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Schutz der Dunkelheit tun.
Millycent genügte ein kurzer Blick, um festzustellen, dass sämtliche Laternenmasten mit Überwachungskameras ausgestattet waren. Besser konnte es nicht laufen. Sie würden die vorhandenen Kameras einfach anzapfen und noch ein paar weitere, hochauflösende zusätzlich installieren.
Chemin de Ruth, Cologny
Monsieur Jean-Claude Rains beobachtete den mit feinem roten Sahara-Sand bedeckten, ehemals schwarzen Mercedes Van durch die Heckscheibe seines Mietwagens.
»Sehen Sie, Renfield«, sagte er, »sie halten an. Was glauben Sie, was das bedeutet?«
»Dass einer von ihnen mal für kleine Mistkäfer muss, Monsieur?«
Unter normalen Umständen hätte er Renfield dafür eine Kopfnuss verpasst. Aber Rains war viel zu gut gelaunt, um sich ärgern zu lassen. Die Aussichten, den Koffer bald in die Finger zu kriegen, waren nie besser gewesen. »Sie bereiten sich vor, Renfield«, sagte er. »Hier sind wir richtig. Allerdings können wir nicht hier stehen bleiben. Wir müssen uns einen unauffälligeren Platz zum Observieren suchen. Fahren Sie mal die Straße runter.«
Sie fanden einen geeigneten Platz und Renfield schaltete die Zündung aus. »Und was jetzt, Monsieur?«
»Wir warten«, sagte Rains. »Was immer geschieht, es wird sich während der Nacht abspielen. Uns bleibt also noch etwas Zeit. Die sollten Sie nutzen, um mich abzustauben.«
Das sogenannte Abstauben war eine von Renfields ungeliebteren Pflichten, für Rains jedoch beinahe lebensnotwendig. Nicht, dass er ohne die Prozedur körperlich Schaden genommen hätte, aber zur Beruhigung seines ohnehin schon merklich angeschlagenen Nervenkostüms war es zwingend notwendig.
Gewöhnlicher Hausstaub war schon schlimm genug. Genauso wie Dreck unter den Fingernägeln, Essensreste im Gesicht, Nebel, Regen oder Schnee. All das machte ihn teilweise sichtbar. Aber was Rains wirklich abgrundtief hasste, war dieser verdammte Sahara-Sand. Im Sommer lag alle paar Stunden ein ganz feiner Hauch des roten Sandes auf seinen nackten Gliedern und machte ihn ein wenig sichtbar – mal mehr, mal weniger. Daher war es unerlässlich, dass Renfield ihn in regelmäßigen Abständen mit einem Staubwedel von diesen lästigen Rückständen befreite.
Nachdem die für beide Seiten immer ein wenig peinliche Prozedur beendet war, ließ Rains sich wieder in die Polster des Rücksitzes fallen. Renfield saß vorn und steckte sich zur Abwechslung mal keine Insekten, sondern das letzte Stückchen eines köstlich duftenden Croissants in den Mund.
Langsam bekam auch Rains Hunger, sein Magen knurrte vernehmlich.
»Wollen Sie nicht auch ein Croissant, Monsieur?«, fragte Renfield und drehte sich mit der Papiertüte in der Hand nach hinten um. »Die ganze Nacht ohne einen Happen – das ist doch nicht gesund.«
»Nicht, wenn ich unbekleidet bin. Das wissen Sie doch.«
»Natürlich nicht. Wie dumm von mir.« Nach den Mahlzeiten blieb das Essen in Monsieurs Bauch noch für etwa eine Stunde sichtbar. Das wusste er. Erst wenn es halbwegs verdaut war, sah man nichts mehr. Deswegen nahm Rains seine Mahlzeiten stets bekleidet zu sich.
»Ich habe wirklich schrecklichen Hunger, Renfield«, sagte er. »Ich werde mir kurz etwas überziehen.«
»Wie Sie wollen, Monsieur«, sagte Renfield und reichte die Tüte mit den Croissants nach hinten. »Wünschen Sie, dass ich solange die Augen schließe?«
Am frühen Nachmittag erreichten Talbot, Adrian und Isabella ebenfalls die Ortschaft Cologny. Alle drei waren hundemüde. Trotzdem fuhren sie als Erstes den
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