Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
auf. Hoffentlich, dachte er bei sich, hoffentlich hat der Typ ihn nicht umgebracht.
Renfield war völlig verdutzt, als der Riese umfiel. Er selbst hatte geglaubt, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Doch wie so oft im Leben war es ganz anders gekommen. Er kicherte beglückt. Dann leckte er nervös seine Handflächen an und glättete sein vom Wind und der ungewohnten Aktivität zerzaustes Haar. Wer hätte das gedacht? Zu dumm nur, dass Monsieur Rains das nicht gesehen hatte. Er wäre mit Recht stolz auf ihn gewesen.
Der große Kerl lag mit ausgestreckten Armen und mit dem Gesicht nach unten reglos im Gras. Und Renfield musste nur den rechten Arm des Mannes anheben, um an das Kästchen zu kommen, das halb unter dessen Schulter begraben lag. Erst nach einigen Versuchen gelang es ihm. Dann aber klaubte er rasch die zu Boden gefallene Holzschatulle auf und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Bloß weg hier. In der Ferne machte er das offene Gittertor aus. Dahinter lag der Chemin Byron. Und genau darauf rannte er zu.
Isabella beobachtete das Schauspiel aus sicherer Entfernung. Sie sah, wie Talbot umfiel und wie der dünne Kerl sich das Kästchen schnappte und aufstand. Isabella versuchte, abzuschätzen, wohin der Mann laufen würde. Als sie nun sah, dass er mit weit ausgreifenden Schritten auf das offene Tor zurannte, neben dem sie am Boden kauerte, kam ihr eine glänzende Idee.
In Windeseile knotete sie das eine Ende der lose am Eisentor baumelnden Kette am unteren Scharnier des gegenüberliegenden Torpfostens fest. Dann hielt sie den Atem an.
Noch zehn Meter.
Noch fünf Meter.
Noch drei Meter.
Noch zwei.
Noch …
Im selben Moment, als der Dünne keuchend und mit rasselndem Atem durch das Tor an ihr vorbeirannte, stemmte Isabella ihre Absätze in den Boden und zog mit aller Kraft die Eisenkette stramm. Der Typ stieß einen überraschten Schrei aus, ruderte mit den Armen und schlug lang hin. Reglos lag er im Staub. Das Kästchen, das er in den Händen gehalten hatte, war ein gutes Stück weitergeflogen und lag mitten auf der Straße. Ohne zu zögern, lief Isabella dorthin und griff sich den kleinen Holzkasten.
Sie überlegte kurz, ob sie zu Talbot laufen und nach ihm sehen sollte. Doch er war ein großer Junge und käme sicher ohne sie zurecht. Außerdem war die Gefahr viel zu groß, dass sich auf dem Grundstück noch andere Leute versteckten, die womöglich versuchen würden, ihr den Kasten wieder abzunehmen. Stattdessen lief sie zum Wagen zurück. Als sie dort ankam, sprach Adrian gerade aufgeregt in das Mikrofon seines Headsets und starrte gleichzeitig den Bildschirm an, auf dem unscharf ein paar Grashalme zu sehen waren.
»Adrian!«, flüsterte Isabella und klopfte mit der flachen Hand an die Scheibe der Beifahrertür.
Erschrocken schaute Adrian hoch. »Verdammt noch mal, Isabella, wo bist du gewesen?«
»Das ist jetzt egal. Du musst sofort kommen. Talbot steckt in Schwierigkeiten.«
»Scheiße! Das habe ich befürchtet.« Er zeigte auf den Bildschirm, wo noch immer nichts als Grashalme zu sehen waren. »Wo steckt er denn?«
»Nicht weit von hier. Da ist ein Eisentor auf der rechten Seite. Durch das musst du reingehen.« Sie deutete vage die Straße hinauf in die Dunkelheit. »Er hat sich das Bein gebrochen, glaube ich. Und er hat gesagt, ich soll dich holen.«
Adrian klappte das Notebook zu, riss sich das Headset vom Kopf und stieg aus dem Wagen. Er hatte ein äußerst mulmiges Gefühl im Bauch. »Bleib du hier und pass solange auf die Klamotten auf«, sagte er. Dann machte er leise die Wagentür zu und marschierte los.
»Bitte sei vorsichtig, Adrian«, sagte Isabella. Allerdings mehr zu sich selbst und so leise, dass er es gar nicht hören konnte. Kaum hatte die Dunkelheit Adrian verschluckt, stieg Isabella in den Wagen und zog den Koffer unter dem Beifahrersitz hervor.
Rains stand nach wie vor bewegungslos auf dem Rasen beim Karpfenteich und versuchte krampfhaft, wie ein Teil der ihn umgebenden Luft zu erscheinen, als er in der Ferne Renfields Schrei hörte. Der Agent, der keinen Meter neben ihm stand, schien ihn ebenfalls gehört zu haben. Bis eben hatte der sich nämlich noch die feuchten, mondbeschienenen Fußabdrücke am Rand des Zierteichs besehen, stand jetzt aber auf und blickte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Allerdings machte er keinerlei Anstalten, zu gehen. Irgendetwas Fürchterliches war mit Renfield geschehen, dessen war sich Rains sicher.
Weitere Kostenlose Bücher