Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
Und er war hier gefangen! Denn solange der Agent so dicht bei ihm stand, dass er ihm fast auf die Zehenspitzen trat, konnte er weder vor noch zurück.
Merde! Es gab eben doch keine Glückstage. Es gab sie einfach nicht.
Das Erste, was Talbot spürte, als er auf dem Rasen wieder zu sich kam, war der Schmerz in seinem Kiefer. Was war bloß geschehen? Dann fiel ihm der komische dünne Kerl wieder ein, und allmählich schlichen sich die Erinnerungsfetzen wie Nebelschwaden in sein Bewusstsein zurück.
Dieser komische dünne Kerl … Er hatte ihn doch tatsächlich unterschätzt. Das war ein Fehler gewesen. Nicht umsonst lautete Major McGuffins zweiter Grundsatz: Unterschätzen Sie niemals einen Gegner, wie schwach er Ihnen auch erscheinen mag.
Talbot, dem der Schädel brummte, als habe ihn eine Abrissbirne getroffen, rappelte sich so weit hoch, bis er sich auf Hände und Knie stützen konnte. Verflucht! Er war einfach nicht mehr so fit wie früher. Er tastete den Boden nach der kleinen Holzschatulle ab. Irgendwo musste sie doch hingefallen sein. Aber so lange er auch suchte, er fand sie nicht. Der dünne Kerl musste sie an sich genommen haben …
Als er die Augen zusammenkniff, um in der Dunkelheit besser sehen zu können, glaubte er zunächst, zu halluzinieren. War das etwa Adrian, der da geduckt auf ihn zugelaufen kam?
Adrian hatte das Tor sofort gefunden. Eine durch die Gitterstäbe geflochtene schwere Eisenkette baumelte am Schloss. Offenbar war sie mit großer Kraft durchgekniffen worden. Adrian betrat langsam den Garten des riesigen Anwesens, wobei er sich immer wieder zu allen Seiten umschaute. Und dann sah er Talbot. Er kauerte etwa 30 Meter weiter auf allen vieren am Boden. Er eilte zu ihm. »Kommen Sie hoch, ich stütze Sie. Welches Bein ist denn gebrochen?«
»Gebrochen?« Talbot zog sich stöhnend an Adrians ausgestreckter Hand hoch. »Ich denke nicht, dass etwas gebrochen ist.« Er rieb sich das schmerzende Kinn.
»Ich dachte, Sie hätten zu Isabella gesagt, ich solle kommen, weil Sie sich das Bein gebrochen haben?«
»Du träumst wohl, Junge«, sagte er. »Isabella ist doch bei dir im Wagen. Wie soll ich da mit ihr gesprochen haben.«
»Na warte«, meinte Adrian, »der werde ich was erzählen.«
Doch als sie zum Wagen zurückkehrten, war Isabella nicht mehr da. Ein rascher Blick unter den Beifahrersitz genügte, um Talbots schlimmste Befürchtungen zu bestätigen – mit Isabella war auch der Koffer verschwunden.
Millycent, die alles, was das Mädchen tat, live auf ihrem Monitor miterlebte, nahm sofort Kontakt mit Purdy auf. »Abbruch, Maxwell! Du musst alles stehen und liegen lassen und sofort zurückkommen!«, rief sie in das Mikro ihres Headsets. »Die Kleine ist mit dem Koffer und dem Kasten, den Talbot aus dem Haus mitgenommen hat, stiften gegangen. Wir müssen hinter ihr her.«
Keine drei Minuten später saß Purdy wieder im Van und verfolgte die kristallklaren Videobilder, die die im Nachtsichtmodus arbeitende Kamera der vorletzten verbliebenen X-FLY11 von der Flucht des Mädchens funkte.
Missdirektion
Bahnhof Gare de Cornavin, Genf
Wenn Isabella eins gelernt hatte, dann, wie man falsche Fährten legte. Ihr Großvater Pierre, Gott hab ihn selig, war nicht nur ein meisterhafter Taschendieb, sondern auch ein begnadeter Zauberkünstler gewesen. Und er hatte sie von Kind an unterrichtet. Wollte man die Aufmerksamkeit des Publikums von einem ganz bestimmten Punkt ablenken (beispielsweise von der rechten Hand, weil man damit unbemerkt etwas verschwinden lassen wollte), so musste man mit der anderen Hand ein Ablenkungsmanöver einleiten. Mit den Fingern schnippen beispielsweise. Genauso, wie man jemanden rechts anrempelte, wenn man ihm links das Portemonnaie aus der Tasche ziehen wollte. Missdirektion , nannte ihr Großvater das. Und wenn man die Kunst der Missdirektion perfekt beherrschte, war es möglich, selbst den aufmerksamsten Beobachter zu täuschen. Tatsächlich war es sogar viel einfacher, jemanden zu täuschen, der krampfhaft versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was da vor seinen Augen geschah. Je angestrengter die Konzentration, umso leichter gelang die Missdirektion.
Ihr war von vornherein klar gewesen, dass man ihr folgen würde. Diese Gefahr hatte sie einkalkuliert, denn das war ja auch Sinn und Zweck der Übung gewesen. Aber Isabella wäre nicht ihres Großvaters beste Schülerin gewesen, hätte sie damit nicht umzugehen gewusst. Ein Satz ihres
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