Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
Monsieur Lombard lächelte. »Du musst bestimmt deinen Zug bekommen, nicht wahr?«
Isabella tat erstaunt. »Woher wissen Sie das?« Die Disziplin des Lügens beherrschte sie nahezu perfekt.
»Alle müssen sie immer den Zug bekommen«, sagte Monsieur Lombard nachdenklich. »Oder den Bus. Je nachdem.«
In Gedanken verfluchte Isabella ihre Entscheidung, ausgerechnet diesen Laden betreten zu haben. Vielleicht sollte sie sich den Koffer einfach wieder schnappen und es anderswo probieren? Der alte Kerl schien sich ja fast einen Spaß daraus zu machen, sie hinzuhalten. Gerade als sie sich dazu durchgerungen hatte, die Sache abzublasen, legte Monsieur Lombard die Lupe aus der Hand und verkündete, er würde den Koffer nehmen.
»Oh, ehrlich jetzt?« Überrascht sah sie ihn an. »Und wie viel geben Sie dafür?«
»Wie viel verlangst du denn?«
»Weiß nicht«, sagte sie. »100 Schweizer Franken?«
»Ach, du armes Ding.« Mitleidig sah Monsieur Lombard auf sie herab.
»Hab ich zu wenig verlangt? Na, dann sagen wir 1000.«
Der Antiquitätenhändler hob beide Hände, so als hielte ihm jemand eine Waffe unter die Nase und sagte: »15 Franken kann ich dir dafür geben. Allerhöchstens 20. Und wahrscheinlich ist das noch zu viel. Ich muss ihn ja auch noch reinigen lassen … Na schön, 25, weil heute Sonntag ist.«
»Heute ist Freitag.«
»Na, dann eben deswegen.« Er schmunzelte. »Nun, was sagst du?«
Isabella mochte auf den Mann jung und unerfahren wirken, doch blöd war sie nicht. Wenn Monsieur Lombard ihr schon freiwillig 25 bot, waren mit Sicherheit 50 Schweizer Franken drin. Ihr Ehrgeiz war geweckt und sie kam langsam in Fahrt. Nach kurzer Überlegung sagte sie: »Okay. Für 75 gehört der Koffer Ihnen.«
»Du machst mich arm, Mädchen«, sagte er. »Das ist jenseits von Gut und Böse. Machst du dir überhaupt ein Bild davon, wie lange ich für so viel Geld arbeiten muss? 30 Franken – das ist mein allerletztes Angebot.«
»60.«
»50«, sagte Monsieur Lombard. »Aber dann ist wirklich Schluss.«
»Super«, meinte Isabella und streckte die Hand aus. »50 sind gebongt.«
Monsieur Lombard zählte ihr die Geldscheine in die Hand: zwei Zwanziger und einen Zehner. Sie zählte das Geld noch einmal nach, ehe sie es in die Tasche steckte. Mit einem formvollendeten Knicks bedankte sie sich und huschte zur Ladentür hinaus. Vorsichtig spähte sie die Gasse nach rechts und links hinunter. Es war nichts Verdächtiges zu erkennen. Kein Blick, der ihr folgte. Keine in der Luft schwebende Zigarette. Und niemand, der sich mit seiner eigenen Hand unterhielt. Sie war schon zu lange auf der Hut vor jedermann, um jetzt damit aufzuhören. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagte Mama immer. Und sie wusste ganz genau, dass das stimmte. War man in den Fußgängerzonen und Touristenhochburgen dieser Welt unterwegs, um lange Finger zu machen, war es manchmal nur das vage Gefühl, die Polizei sei in der Nähe, das einen vor der Verhaftung bewahrte. Ihr Fluchtinstinkt und ein untrügliches Gespür für Verfolger hatten ihr schon so manches Mal die Haut gerettet. Beides war ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Eine besonders aufdringliche Fliege surrte ihr ums Gesicht und setzte sich ihr auf die Schulter. Sie wischte sie genervt fort.
So schnell sie konnte, ließ sie die leeren Seitengassen jenseits der Grande Rue hinter sich und tauchte im Gewimmel der Menschenmassen unter wie ein winziger Fisch im Ozean.
Verflucht! Renfield war eben im Begriff gewesen, Lombards Antiquitätenladen zu betreten, als ihm ein dicker Kerl mit breitkrempigem Hut zuvorkam. Er trug einen großen, bauchigen Metallkoffer unter dem Arm und sah wie ein Handelsvertreter aus. Das hatte Renfield gerade noch gefehlt. Bei dem, was er vorhatte, konnte er keine unliebsamen Zeugen gebrauchen. Und wenn es sich bei dem Mann um einen Vertreter handelte, konnte das Stunden dauern.
Doch zu seiner Überraschung dauerte es keine zwei Minuten, da kam der Mann schon wieder aus dem Geschäft heraus. Was für ein Glück! Offenbar war er abgewimmelt worden.
Showtime!, dachte Renfield. Er überquerte die Gasse und betrat den Laden.
Purdy stand im Schatten eines Türeingangs. Den Empfänger im Ohr und das Mikro am Revers, sah er dem Mädchen nach, das am Ende der Gasse verschwand.
»Sie hat den Koffer nicht mehr bei sich«, sagte er. »Sie war in einem von diesen Antiquitätenläden. Scheiße, Milly, ich glaube, sie hat das Ding gerade
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