Das fremde Gesicht
Hause gewesen, als es ankam, hätte Kyle es nie zu sehen bekommen.
Nachdem sie bei Kyle hereingeschaut, ihre Mutter besucht und im Gasthof nach dem Rechten gesehen hatte, war Meghan um halb acht nach Hause gekommen. Virginia hatte darauf bestanden, ihr eine Portion Essen mitzugeben, Hühnerfrikassee, Salat und die warmen salzigen Brötchen, die Meghan so gern hatte. »Du bist genauso schlimm wie deine Mutter«, hatte Virginia sich ereifert. »Du vergißt noch zu essen.«
Hätte ich wahrscheinlich auch, dachte Meghan, während sie sich schnell auszog und den alten Pyjama und einen Morgenrock überstreifte. Die Sachen stammten noch aus ihrer College-Zeit und waren nach wie vor ihre Lieblingsklamotten für einen frühen, ruhigen Abend zum Lesen oder Fernsehen.
In der Küche nippte sie an einem Glas Wein und knabberte an dem Salzbrötchen, während der Mikrowellenherd das Geflügelgericht im Nu erhitzte.
Als es fertig war, trug sie es auf einem Tablett ins Arbeitszimmer und machte es sich im Drehsessel ihres Vaters bequem. Am nächsten Tag würde sie anfangen, sich mit der Geschichte der Manning Clinic auseinanderzusetzen. Die Rechercheure beim Fernsehsender konnten rasch alles Hintergrundmaterial liefern, das es darüber gab. Und über Dr. Manning, dachte sie. Ich wüßte gern, ob der nicht irgendwelche Leichen im Keller hat, sagte sie sich.
Heute abend jedoch hatte sie ein anderes Projekt im Sinn. Sie mußte unbedingt jede Spur von einem Hinweis herausfinden, der womöglich einen Zusammenhang zwischen ihrem Vater und der Toten herstellte, die ihr ähnlich sah, der Frau, die vielleicht Annie hieß.
Ein Verdacht hatte sich in ihr Bewußtsein eingeschlichen, ein so unglaublicher Verdacht, daß sie sich noch nicht dazu bringen konnte, ihn ernsthaft zu erwägen. Sie wußte lediglich, daß es absolut entscheidend war, sofort sämtliche persönlichen Unterlagen ihres Vaters durchzugehen.
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Schubladen im Schreibtisch wohlgeordnet. Edwin Collins war von Natur aus akkurat gewesen. Schreibpapier, Umschläge und Briefmarken waren in der Seitenschublade mit den Zwischenfächern exakt sortiert. Sein Übersichtskalender hatte Eintragungen für Januar und Anfang Februar.
Danach waren nur langfristige Termine festgehalten. Der Geburtstag ihrer Mutter. Ihr Geburtstag. Die Frühjahrspartie mit dem Golfklub. Eine Kreuzfahrt, die ihre Eltern unternehmen wollten zur Feier ihres dreißigsten Hochzeitstags im Juni.
Warum würde jemand, der sein Verschwinden vorbereitet, auf Monate im voraus wichtige Ereignisse in seinem Kalender markieren? überlegte sie. Es ergab keinen Sinn.
Die Tage, an denen er im Januar verreist war oder im Februar zu verreisen gedachte, waren einfach mit dem Namen einer Stadt versehen. Sie wußte, daß die Einzelheiten jener Reisen in dem Terminkalender gestanden haben mußten, den er bei sich trug.
Die Schublade ganz unten rechts war abgeschlossen.
Meghan suchte vergeblich nach dem Schlüssel, zögerte dann. Am nächsten Tag konnte sie vielleicht den Schlüsseldienst bestellen, aber sie wollte nicht abwarten.
Sie ging in die Küche, fand den Werkzeugkasten und kam mit einer Stahlfeile zurück. Wie erhofft, war das Schloß alt und leicht aufzubrechen.
In dieser Schublade waren mit Gummibändern gebündelte Briefumschläge gestapelt. Meghan nahm den obersten Stapel heraus und schaute ihn durch. Alles außer dem ersten Kuvert trug dieselbe Handschrift.
Dieser Umschlag enthielt nur einen Zeitungsausschnitt aus dem Philadelphia Bulletin. Unter dem Bild einer gutaussehenden Frau lautete der kurze Nachruf: Aurelia Crowley Collins, 75, Zeit ihres Lebens Einwohnerin von Philadelphia, starb am 9. Dezember im St. Paul’s Hospital an Herzversagen.
Aurelia Crowley! Meghan rang nach Luft, als sie das Bild betrachtete. Die weit auseinanderstehenden Augen, das wellige Haar um das ovale Gesicht herum. Es war dieselbe Frau, nur älter geworden, deren Bildnis einen guten Meter entfernt deutlich sichtbar auf dem Tisch plaziert war. Ihre Großmutter.
Das Datum auf dem Ausschnitt lag zwei Jahre zurück.
Ihre Großmutter hatte noch bis vor zwei Jahren gelebt!
Meghan blätterte durch die übrigen Umschläge, die sie vor sich hatte. Sie kamen alle aus Philadelphia. Der letzte war zweieinhalb Jahre zuvor abgestempelt worden.
Sie las einen Brief, dann einen weiteren, und noch einen.
Fassungslos ging sie auch die übrigen Briefbündel durch.
In beliebiger Reihenfolge las sie immer
Weitere Kostenlose Bücher