Das fremde Gesicht
Verwandte. Ist es in Ordnung, wenn ich ihr Ihre Adresse gebe?«
Sie lauschte, schaute dann Meghan an. »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Meghan. Meghan Collins.«
Die Verkäuferin wiederholte den Namen, hörte wieder zu, verabschiedete sich dann und legte auf. Sie lächelte Meghan an. »Mrs. Collins möchte gern, daß Sie gleich zu ihr kommen. Sie wohnt nur zehn Minuten von hier entfernt.«
47
Frances stand da und schaute hinten am Haus zum Fenster hinaus. Eine niedrige, mit einer Eisenbrüstung versehene Stuckmauer umschloß das Schwimmbecken und die Veranda. Das Grundstück grenzte an das weitläufige Wüstengebiet an, in dem das Reservat der Pima-Indianer lag. In der Ferne glitzerte der »Kamelrücken«, der Berg Camelback, in der Mittagssonne. Ein unangemessen strahlender Tag zur Entlarvung aller Geheimnisse, dachte sie.
Annie war also doch nach Connecticut gefahren, hatte Meghan aufgesucht und sie hierhergeschickt. Warum hätte Annie auch die Wünsche ihres Vaters respektieren sollen, fragte sich Frances voller Ingrimm. Welche Loyalität schuldet sie ihm oder mir?
Während der zweieinhalb Tage, seit sie die Nachricht auf Edwins Anrufbeantworter hinterlassen hatte, wartete sie nun, von Hoffnung und Furcht gebeutelt. Der Anruf, den sie gerade von Palomino erhalten hatte, war nicht der, auf den sie gehofft hatte. Aber Meghan Collins konnte ihr vielleicht wenigstens sagen, wann sie Annie gesehen hatte, möglicherweise auch, wo Frances sie erreichen konnte.
Das Glockenspiel läutete durchs Haus, sanft, melodiös, und dennoch schneidend. Frances wandte sich um und ging zur Haustür.
Als Meghan vor der Nummer 1006 in der Doubletree Ranch Road stehenblieb, hatte sie ein einstöckiges, cremefarbenes Stuckhaus mit einem roten Ziegeldach vor sich, am Rand der Wüste gelegen. Leuchtendroter Hibiskus und Kakteen rahmten die Vorderseite des Anwesens ein, in Harmonie mit der rauhen Schönheit der Bergkette in der Ferne.
Auf ihrem Weg zur Haustür kam sie am Fenster vorbei und erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Frau im Inneren des Hauses. Sie konnte ihr Gesicht nicht sehen, stellte aber fest, daß die Frau groß und sehr schlank war, mit lose zu einem Knoten gesteckten Haaren. Sie schien eine Art Kittel zu tragen.
Meghan klingelte, dann öffnete sich die Tür.
Die Frau rang nach Luft, sichtbar um Fassung bemüht.
Ihr Gesicht wurde bleich. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Ich hab’ ja gewußt, daß Sie wie Annie aussehen, aber ich hatte keine Ahnung …« Um weitere Worte im Keim zu ersticken, fuhr sie sich mit der Hand an den Mund und preßte sie gegen die Lippen.
Das ist Annies Mutter, und sie weiß nicht, daß Annie tot ist. Voller Entsetzen dachte Meghan: Für sie wird es noch schlimmer sein, daß ich hier bin. Wie würde sich Mom fühlen, wenn es Annie wäre, die in Connecticut auftauchen und ihr sagen würde, ich sei tot?
»Kommen Sie herein, Meghan.« Die Frau wich zur Seite, die Hand noch immer um den Türgriff geklammert, als hielte sie sich daran fest. »Ich bin Frances Grolier.«
Meghan war sich nicht klar, was für einen Menschen sie vorzufinden erwartet hatte, aber sicher nicht diese Frau mit ihrem frischen, schlichten Aussehen, graumelierten Haaren, kräftigen Händen und einem schmalen, von Falten durchzogenen Gesicht. Die Augen, in die sie blickte, wirkten unglücklich und verstört.
»Hat die Verkäuferin von Palomino Sie nicht Mrs. Collins genannt, als sie anrief?« fragte Meghan.
»Die Händler kennen mich als Mrs. Collins.«
Sie trug einen goldenen Ehering. Meghan betrachtete ihn unverhohlen.
»Ja«, sagte Frances Grolier. »Um den Schein zu wahren, hat mir Ihr Vater den gegeben.«
Meghan mußte daran denken, wie ihre Mutter den Ehering umklammert hatte, nachdem die Hellseherin ihn ihr zurückgeschickt hatte. Sie wandte den Blick von Frances Grolier ab, mit einemmal von einem überwältigenden Gefühl des Verlusts durchflutet.
Eindrücke des Raums ringsum wurden gleichsam durch die Trübsal dieses Augenblicks gefiltert.
Das Haus war in Wohn- und Arbeitsbereiche aufgeteilt, die von vorn bis hinten reichten.
Vorne lag das Wohnzimmer. Ein Sofa vor dem offenen Kamin. Erdfarbene Fliesen auf dem Boden.
Der kastanienbraune Lehnstuhl mit dem dazu passenden Fußschemel seitlich vom Kamin: exakte Ebenbilder der Möbel im Arbeitszimmer ihres Vaters; Bücherregale in angenehmer Reichweite vom Sessel. Dad schätzte es offenbar, sich zu Hause zu fühlen, wo immer er war, dachte
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