Das fremde Gesicht
nach seiner Heimkehr angesehen, doch seine Mutter hatte darauf bestanden, daß er ihr Gesellschaft leistete.
»Ich bin so viel allein, Bernard«, hatte sie sich beklagt.
»Du bist früher am Wochenende nie so oft weggewesen.
Du hast doch nicht etwa ein Mädchen, oder?«
»Natürlich nicht, Mama«, hatte er erklärt.
»Du weißt doch, was für Ärger du dir schon wegen Mädchen eingehandelt hast.«
»Das war alles nicht meine Schuld, Mama.«
»Ich hab’ nicht gesagt, daß es deine Schuld war. Ich hab’
gesagt, daß Mädchen Gift für dich sind. Bleib ihnen vom Leib.«
»Ja, Mama.«
Wenn Mama in eine dieser Stimmungen geriet, war es am besten für Bernie, ihr zuzuhören. Er hatte noch immer Angst vor ihr. Er zitterte noch immer, wenn er an die Zeiten zurückdachte, als er ein Junge war und sie plötzlich mit dem Riemen in der Hand erschien. »Ich hab’ gesehen, daß du dir diesen Schund im Fernsehen anschaust, Bernard. Ich kann diese dreckigen Gedanken in deinem Kopf lesen.«
Mama würde nie verstehen, daß seine Empfindungen für Meghan rein und wundervoll waren. Er wollte einfach nur in Meghans Nähe sein, sie sehen, das Gefühl haben, daß er sie immer dazu bringen konnte, zu ihm aufzuschauen und ihn anzulächeln. Wie gestern abend zum Beispiel. Wenn er an das Fenster geklopft und sie ihn erkannt hätte, hätte sie sich bestimmt nicht erschrocken. Sie wäre zur Tür gelaufen, um ihn reinzulassen. Sie hätte gesagt: »Bernie, was tun Sie denn hier?« Vielleicht hätte sie ihm eine Tasse Tee gemacht.
Bernie beugte sich vor. Er kam jetzt wieder zu der schönen Stelle, wo Meghan so auf ihre Beschäftigung konzentriert aussah, während sie am Kopfende des Eßzimmertisches mit all den Unterlagen vor sich dasaß.
Mit seinem Zoom war es ihm gelungen, ihr Gesicht in Großaufnahme heranzuholen. Die Art, wie sie anfing, die Lippen zu befeuchten, hatte etwas an sich, was ihn erregte.
Ihre Bluse war am Hals offen. Er war sich nicht sicher, ob er dort ihren Puls schlagen sehen konnte, oder ob er sich das nur einbildete.
»Bernard! Bernard!«
Seine Mutter war am oberen Treppenabsatz und brüllte nach ihm. Wie lange sie wohl schon rief?
»Ja, Mama. Ich komme.«
»Hast lange genug gebraucht«, fuhr sie ihn an, als er die Küche betrat. »Du kommst noch zu spät zur Arbeit. Was hast du denn gemacht?«
»Bißchen aufgeräumt. Ich weiß doch, du willst, daß ich alles ordentlich zurücklasse.«
Fünfzehn Minuten später war er im Auto. Er fuhr die Straße hinunter, unschlüssig, wohin er wollte. Ihm war klar, daß er sich ein paar Fahrgäste am Flugplatz verschaffen mußte. Bei all den Geräten, die er kaufte, war es nötig, daß er etwas Geld verdiente. Er mußte sich zwingen, das Steuer herumzudrehen und den Wagen in Richtung La Guardia zu dirigieren.
Er verbrachte den Tag damit, die Strecke zum Flughafen hin und her zu fahren. Bis zum Spätnachmittag lief es ganz zufriedenstellend, als sich irgendein Kerl über den Verkehr beschwerte. »Himmelherrgott, gehen Sie doch auf die linke Spur. Sehen Sie denn nicht, daß die hier verstopft ist?«
Bernie hatte wieder angefangen, an Meghan zu denken, ob es wohl ungefährlich war, an ihrem Haus vorbeizufahren, sobald es dunkel wurde.
Eine Minute später meckerte der Passagier: »Hören Sie, ich hab’ gewußt, ich hätte lieber ein Taxi nehmen sollen.
Wo haben Sie eigentlich fahren gelernt? Machen Sie doch voran, verdammt noch mal!«
Bernie war an der letzten Ausfahrt des Grand Central Parkway vor der Triborough Bridge. Er machte eine scharfe Rechtskurve auf die Parallelstraße zum Parkway und brachte den Wagen am Bordstein zum Stehen.
»Was zum Teufel machen Sie da?« protestierte der Fahrgast.
Der große Koffer des Mannes stand neben Bernie auf dem Vordersitz. Er lehnte sich zur Seite, öffnete die Tür und schob den Koffer hinaus. »Hauen Sie ab«, befahl er.
»Besorgen Sie sich ein Taxi.«
Er fuhr mit dem Kopf herum und schaute dem Kerl ins Gesicht. Sie starrten sich gegenseitig in die Augen.
Die Miene des Passagiers schlug in einen Ausdruck der Panik um. »Schon gut, beruhigen Sie sich! Tut mir leid, wenn ich Sie aufgeregt hab’.«
Er sprang aus dem Wagen und zog seinen Koffer mit einem Ruck gerade noch weg, als Bernie mit Wucht auf das Gaspedal trat. Bernie suchte sich seinen Weg durch Seitenstraßen. Er fuhr besser nach Hause. Sonst würde er noch umkehren und dem Kerl eins in die Fresse schlagen.
Er begann bewußt tief einzuatmen. Das hatte ihm
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