Das fremde Gesicht
flehentlich Meghans Gesicht. »Als ich die Tür aufgemacht hab’ … obwohl ich doch wußte, daß Sie kommen … da hab’ ich für diesen Bruchteil einer Sekunde gedacht, es ist Annie. Ich wußte, wie ähnlich Sie beide sich sehen. Ed hat mir Bilder gezeigt.« Ihre Knie gaben nach.
Meghan griff nach ihren Armen und half ihr, auf der Couch Platz zu nehmen. »Gibt es jemanden, den ich anrufen kann, irgendwen, den Sie jetzt gern bei sich hätten?«
»Niemanden«, flüsterte Frances. »Niemanden.« Ihre Blässe verwandelte sich in ein kränkliches Grau, während sie in den Kamin starrte, als habe sie plötzlich Meghans Anwesenheit vergessen.
Meghan sah hilflos zu, wie sich Frances’ Groliers Pupillen weiteten, ihr Gesichtsausdruck leer wurde. Sie erleidet einen Schock, dachte Meghan.
Dann fragte Frances mit einer Stimme, die völlig unbeteiligt klang: »Was ist mit meiner Tochter passiert?«
»Sie wurde erstochen. Ich war zufällig gerade in der Notaufnahme, als sie eingeliefert wurde.«
»Wer …?«
Grolier brachte die Frage nicht zu Ende.
»Annie war vielleicht das Opfer eines Raubüberfalls«, sagte Meghan ruhig. »Sie hatte keine Papiere bei sich außer einem Zettel mit meinem Namen und meiner Telefonnummer.«
»Das Notizpapier vom Drumdoe Inn?«
»Ja.«
»Wo ist meine Tochter jetzt?«
»Bei … der Gerichtsmedizin in Manhattan.«
»Sie meinen das Leichenschauhaus.«
»Ja.«
»Wie haben Sie mich gefunden, Meghan?«
»Durch die Nachricht, die Sie neulich nachts hinterlassen haben, er solle Palomino Lederwaren zurückrufen.«
Ein gespenstisches Lächeln zuckte über Frances Groliers Lippen. »Ich hab’ die Nachricht in der Hoffnung hinterlassen, Ihren Vater zu erreichen. Annies Vater. Er hat Ihnen immer den Vorrang eingeräumt, wissen Sie. Er hatte solche Angst, daß Sie und Ihre Mutter das mit uns herauskriegen. Die ganze Zeit hatte er so eine Angst.«
Meghan konnte erkennen, daß der Schock jetzt von Zorn und tiefem Kummer abgelöst wurde. »Es tut mir so leid.«
Es war alles, was ihr zu sagen einfiel. Von da aus, wo sie saß, konnte sie das Weihnachtsfoto sehen. Es tut mir um uns alle so leid, dachte sie.
»Meghan, ich muß mit Ihnen reden, aber nicht jetzt. Ich muß alleine sein. Wo übernachten Sie?«
»Ich werde versuchen, ein Zimmer im Hotel Safari zu bekommen.«
»Dann ruf ich Sie später dort an. Bitte gehen Sie!«
Als Meghan die Tür schloß, hörte sie das anhaltende Schluchzen, tiefe rhythmische Töne, die ihr ins Herz schnitten.
Sie fuhr zum Hotel und hoffte inständig, daß es nicht voll belegt war und daß niemand sie für Annie halten würde.
Doch die Anmeldung verlief ohne Verzögerung, und zehn Minuten später machte sie die Tür ihres Zimmers hinter sich zu und ließ sich aufs Bett sinken; gemischte Gefühle bestürmten sie: unendliches Mitleid, tief empfundener Schmerz und eisige Furcht.
Frances Grolier hielt es eindeutig für möglich, daß ihr Liebhaber Edwins Collins noch lebte.
48
Am Dienstag morgen zog Victor Orsini in Edwin Collins’
früheren Büroraum um. Am Tag zuvor hatten die Reinigungsleute die Wände und Fenster geputzt und den Teppich gereinigt. Jetzt war der Raum antiseptisch sauber.
Orsini mochte nicht einmal daran denken, ihn neu herzurichten. Nicht so, wie die Dinge sich entwickelten.
Er wußte, daß Meghan und ihre Mutter am Sonntag Collins’ persönliche Habseligkeiten ausgeräumt hatten. Er ging davon aus, daß sie die Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört und die Kassette mitgenommen hatten. Er konnte sich nur ausmalen, was sie wohl davon hielten.
Er hatte gehofft, sie würden sich nicht mit Collins’
Geschäftsunterlagen befassen, aber sie hatten sie alle mitgenommen. Aus emotionellen Gründen? Das bezweifelte er. Meghan war gewitzt. Sie hielt nach etwas Ausschau. War es dasselbe, was er so dringend suchte?
War es irgendwo unter diesen Papieren? Würde sie es entdecken?
Orsini hielt beim Auspacken seiner Bücher inne. Er hatte die Tageszeitung auf dem Schreibtisch ausgebreitet, dem Tisch, der Edwin Collins gehörte und den man bald zum Drumdoe Inn befördern würde. Ein Bericht über den letzten Stand des Skandals um die Manning Clinic verkündete auf der Titelseite, Fachleute von der staatlichen Aufsichtsbehörde seien am Montag in der Klinik gewesen und Gerüchte nähmen bereits überhand, daß Helene Petrovic womöglich viele gravierende Fehler gemacht habe. Unter den Gefäßen mit kältekonservierten Embryos seien leere
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