Das fremde Gesicht
Meghan voller Bitterkeit.
Eingerahmte Fotos, die so auf dem Sims standen, daß sie sofort ins Auge fielen, zogen sie wie magnetisch an. Es waren Familienbilder ihres Vaters mit dieser Frau und einem jungen Mädchen, das leicht ihre Schwester hätte sein können, tatsächlich aber ihre Halbschwester war –
vielmehr gewesen war.
Ein Bild fesselte sie ganz besonders. Es war eine Weihnachtsszene. Ihr Vater, mit einer Fünf- oder Sechsjährigen auf dem Schoß, von Geschenken umgeben.
Eine junge Frances Grolier hinter ihm auf den Knien, die Arme um seinen Hals geschlungen. Alle in Pyjamas und Morgenröcken. Eine glückliche Familie.
War das einer jener Weihnachtstage, an denen ich ständig um ein Wunder betete, Daddy möge doch plötzlich zur Tür hereinspazieren? überlegte Meghan.
Ihr wurde übel vor plötzlich aufsteigendem Schmerz. Sie wandte sich ab und entdeckte an der gegenüberliegenden Wand die Büste auf dem Sockel. Auf bleiernen Füßen bewegte sie sich dorthin.
Ein seltenes Talent hatte dieses bronzene Ebenbild ihres Vaters geschaffen. Liebe und Verständnis hatten den Anflug von Wehmut hinter dem Sprühen in seinen Augen erfaßt, den sensiblen Mund, die langen, ausdrucksvollen, unter dem Kinn gefalteten Finger, den noblen Haarschopf mit der Locke, die ihm immer nach vorn in die Stirn fiel.
Sie bemerkte, daß Sprünge am Hals und an der Stirn geschickt repariert worden waren.
»Meghan?«
Sie drehte sich um. Sie fürchtete sich davor, was sie dieser Frau jetzt sagen mußte.
Frances Grolier kam durch das Zimmer auf sie zu. Mit flehender Stimme sagte sie: »Ich bin auf alles vorbereitet, was Sie von mir halten mögen, aber bitte … ich muß über Annie Bescheid wissen. Wissen Sie, wo sie ist? Und was ist mit Ihrem Vater? Hat er sich bei Ihnen gemeldet?«
Um sein Versprechen gegenüber Meghan einzuhalten, versuchte Mac am Dienstag morgen, angefangen um 9
Uhr, zu jeder vollen Stunde, Stephanie Petrovic zu erreichen. Ohne Erfolg.
Um zwölf Uhr fünfzehn rief er Charles Potters an, Helene Petrovics Testamentsvollstrecker. Als Potters am Apparat war, stellte sich Mac vor, erklärte, warum er anrief, und erfuhr, daß Potters sich ebenfalls Sorgen machte.
»Ich hab’s gestern abend bei Stephanie versucht«, sagte Potters. »Mir war klar, daß Miss Collins über ihre Abwesenheit beunruhigt war. Ich gehe jetzt zum Haus hinüber. Ich hab’ einen Schlüssel.«
Er versprach, zurückzurufen.
Anderthalb Stunden später berichtete Potters mit vor Entrüstung zitternder Stimme von Stephanies Schreiben.
»Dieses hinterhältige Mädchen«, rief er aus. »Sie hat sich, was sie tragen konnte, unter den Nagel gerissen! Das Silberbesteck. Ein paar wunderhübsche Porzellanfiguren.
Praktisch Helenes gesamte Garderobe. Ihren Schmuck.
Diese Stücke waren für über fünfzigtausend Dollar versichert. Ich melde das der Polizei. Das ist ein Fall gemeinen Diebstahls.«
»Sie sagen, daß sie mit dem Vater des Babys weggegangen ist?« fragte Mac. »Nach dem, was ich von Meghan weiß, kann ich das kaum glauben. Sie hatte das Gefühl, daß Stephanie Angst davor hatte, ihn wegen Kindesunterhalts zu verklagen.«
»Was vielleicht nur vorgespielt war«, entgegnete Potters.
»Stephanie Petrovic ist eine sehr kalte junge Frau. Ich kann Ihnen versichern, daß der Hauptgrund für ihren Kummer über den Tod ihrer Tante der Umstand war, daß diese ihr Testament nicht geändert hat, wie sie es nach Stephanies Behauptung vorhatte.«
»Mr. Potters, glauben Sie, daß Helene Petrovic vorhatte, ihr Testament zu ändern?«
»Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Ich weiß allerdings, daß Helene in den Wochen vor ihrem Tod ihr Haus zum Verkauf angeboten und ihre Wertpapiere in Inhaberobligationen umgewandelt hat. Zum Glück waren die nicht in ihrem Safe.«
Nachdem Mac den Hörer aufgelegt hatte, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück.
Wie lange konnte irgendein Laie, gleich wie begabt, ausgebildete Experten auf dem Gebiet der Fortpflanzungsendokrinologie und künstlichen Befruchtung hinters Licht führen? grübelte er. Und doch hatte Helene Petrovic es jahrelang fertiggebracht. Ich hätte es nicht gekonnt, dachte Mac, wobei er sich seine intensive medizinische Ausbildung vor Augen hielt.
Laut Meghan hatte Petrovic sich während ihrer Arbeit im Dowling Center für künstliche Fortpflanzung häufig im Laboratorium aufgehalten. Sie hatte womöglich auch eine Beziehung zu einem Arzt vom Valley Memorial, dem Krankenhaus, dem das
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