Das fremde Gesicht
nämlich der Gefängnispsychiater für den Fall geraten, daß er die Wut in sich hochsteigen fühlte. »Sie müssen diese Wut in den Griff bekommen, Bernie«, hatte er ihn gewarnt. »Falls Sie nicht den Rest Ihres Lebens hier verbringen wollen.«
Bernie wußte, daß er nie wieder ins Gefängnis gehen würde. Er war zu allem bereit, um das zu verhindern.
Am Dienstag morgen fing Meghans Wecker um vier Uhr zu klingeln an. Sie hatte den Flug 9 von America West gebucht, Abflug 7 Uhr 25 vom Kennedy Airport aus. Es fiel ihr nicht schwer, aufzustehen. Sie hatte schlecht geschlafen. Sie duschte sich so heiß, wie sie es aushalten konnte, und war froh zu spüren, wie sich die angespannten Muskeln am Nacken und Rücken teilweise lockerten.
Während sie Unterwäsche und Strümpfe anzog, hörte sie den Wetterbericht im Radio. In New York war es unter null Grad kalt. In Arizona sahen die Dinge natürlich anders aus. Während es am Abend zu dieser Jahreszeit kühl war, konnte es doch tagsüber, wie sie hörte, recht warm werden.
Eine leichte beige Wolljacke und lange Hosen mit einer gemusterten Bluse schienen eine gute Wahl zu sein.
Darüber würde sie ihren Burberry ohne Futter tragen. Sie packte rasch die paar Dinge zusammen, die sie zum Übernachten benötigte.
Kaffeeduft begrüßte sie, als sie die Treppe herunterkam.
Ihre Mutter war in der Küche. »Du hättest doch nicht aufstehen sollen«, protestierte Meg.
»Ich hab’ nicht geschlafen.« Catherine Collins spielte mit dem Gürtel ihres Frotteemorgenrocks. »Ich hab’ dir zwar nicht angeboten, mitzukommen, Meg, aber jetzt bekomme ich doch Zweifel. Vielleicht sollte ich dich das nicht alleine machen lassen. Bloß, wenn es dort in Scottsdale eine andere Mrs. Collins gibt, weiß ich nicht, was ich zu ihr sagen sollte. War sie so ahnungslos wie ich hinsichtlich dessen, was da vor sich ging? Oder hat sie gewußt, daß ihr Leben eine Lüge war?«
»Ich hoffe, daß ich noch heute ein paar Antworten bekomme«, sagte Meg, »und ich weiß mit Sicherheit, daß es besser ist, wenn ich das allein durchziehe.« Sie nippte etwas an dem Grapefruitsaft und nahm ein paar Schluck Kaffee.
»Ich muß los. Es ist ein ganz schönes Stück bis zum Kennedy Airport. Ich will nicht in den Berufsverkehr geraten.«
Ihre Mutter begleitete sie zur Haustür. Meg umarmte sie kurz. »Ich komme in Phoenix um elf Uhr Ortszeit an. Ich ruf dich heute am Spätnachmittag an.«
Sie spürte, wie ihre Mutter ihr nachschaute, als sie zum Wagen ging.
Der Flug verlief ereignislos. Sie hatte einen Fenstersitz und blickte lange Zeit unverwandt auf die wattigen Wolkenkissen hinaus. Sie dachte an ihren fünften Geburtstag, als ihre Mutter und ihr Vater sie zu Disney World mitnahmen. Es war ihr erster Flug damals. Sie hatte am Fenster gesessen, daneben ihr Vater, ihre Mutter auf der anderen Seite des Gangs.
Im Lauf der Jahre hatte ihr Vater sie wegen der Frage aufgezogen, die sie damals gestellt hatte. »Daddy, wenn wir aus dem Flugzeug rausgehen würden, könnten wir dann auf den Wolken laufen?«
Er hatte ihr geantwortet, so leid es ihm täte, die Wolken würden sie nicht tragen. »Aber ich werd’ dich immer tragen, Meggie Anne«, hatte er versprochen. »Ich werde immer für dich da sein.«
Und das hatte er auch getan. Sie erinnerte sich an den schrecklichen Tag, als sie bei einem Wettlauf direkt vor der Ziellinie gestrauchelt war und dadurch dem Leichtath-letikteam ihrer High School die Meisterschaft von Connecticut vermasselt hatte. Ihr Vater wartete damals schon auf sie, als sie aus der Sporthalle geschlichen kam, um den tröstenden Worten ihrer Mitkämpfer und der Enttäuschung auf ihren Gesichtern zu entgehen.
Er hatte ihr Verständnis, nicht Trost angeboten. »Es gibt Ereignisse in unserem Leben, Meghan«, hatte er ihr erklärt, »die uns in der Erinnerung, egal, wie alt wir werden, immer wieder weh tun. Ich fürchte, du hast dir gerade eines dieser Ereignisse eingehandelt.«
Eine Welle der Zärtlichkeit durchfuhr Meghan und war dann wieder verebbt, als ihr die Zeiten einfielen, als ihr Vater wegen angeblich dringender Geschäfte verreist war.
Manchmal sogar an Feiertagen wie Thanksgiving und Weihnachten. Hatte er sie in Scottsdale gefeiert? Mit seiner anderen Familie? An Feiertagen war immer so viel Betrieb im Gasthof. Wenn er nicht daheim war, dann aßen sie und ihre Mutter dort zu Abend, aber ihre Mutter stand immer wieder auf, um Gäste zu begrüßen und in der Küche nach dem Rechten zu
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