Das fremde Haus
sie abstoßend. Wenn er sie vor dem Vorfall getroffen hätte, den sie »den Riesenkrach« nannte, hätte er wahrscheinlich ganz anders empfunden. Sie wäre damals ein ganz anderer Mensch gewesen. Simon hätte das nie gegenüber irgendjemandem zugegeben, aber er fühlte sich oft angewidert von Menschen, denen etwas besonders Schlimmes widerfahren war – seine Schuld, nicht ihre. Er vermutete, dass es etwas mit dem Wunsch zu tun hatte, die Tragödie nicht zu nahe an sich heranzulassen. Allerdings brachte ihn das höchstens dazu, noch angestrengter zu versuchen, ihnen zu helfen – zur Kompensation.
»Nur zu«, sagte Barbara. »Ich komme gleich nach. Ich will Ihrem ersten Eindruck nicht im Wege stehen.«
Simon drückte die Klinke hinunter. Als die Tür aufschwang, drang der unverkennbare Geruch von Möbelpolitur heraus. Kit Bowskill mochte sein privates Heiligtum seit 2003 nicht mehr betreten haben, aber irgendjemand hatte den hohen Standard in der Raumpflege aufrechterhalten. Barbara. Das war etwas, das nur eine Mutter tun würde.
»Fallen Sie nicht über den Staubsauger«, warnte sie. »Im Gegensatz zu allen anderen Räumen im Haus steht in Kits Zimmer tatsächlich etwas.« Sie lachte. »Ich habe den Großteil unserer Besitztümer weggegeben, ein halbes Jahr, nachdem Kit uns den Marschbefehl gegeben hatte. Wir hatten keinen Sohn mehr, warum sollten wir da irgendetwas anderes besitzen? Es erschien uns sinnlos.«
Die Tür stand jetzt halb offen. Simon machte sie ganz auf und betrat das Zimmer. Es war voll möbliert, ohne vollgestellt zu sein: ein Bett, zwei Stühle, Schreibtisch, Kleiderschrank, Kommode, ein Bücherregal, neben dem ein Dyson-Staubsauger stand. Zwischen dem Bücherregal und dem zu kleinen Fenster waren Reinigungsmittel aufgereiht – für Glas, für Holz, für Teppichböden. Aus dem grauen Plastikeimer daneben ragten sechs Feder-Staubwedel, dass Zerrbild einer Vase mit Blumen.
Erst dachte Simon, der Raum sei tapeziert, weil jeder Zentimeter der Wände und die Decke bedeckt waren. Aber er sah schnell, dass es keine Tapete sein konnte. Es war kein Muster, das sich wiederholte. Kein Designer, nicht einmal der radikalste, würde etwas so Kompliziertes und Bizarres entwerfen. Fotos. Simon wurde bewusst, dass er auf Hunderte von Fotos blickte, die so zusammengefügt waren, dass man die Schnittstellen nicht mehr erkennen konnte. Vielleicht gab es keine. Simon konnte nicht erkennen, wo ein Bild aufhörte und das nächste anfing. Wie hatte Kit das gemacht? Hatte er all diese Fotos aufgenommen und sie irgendwie zu einer Tapete zusammengefügt?
Alle Fotos zeigten Straßen und Gebäude, außer denen an der Decke. Die zeigten den Himmel: einfach nur hellblau, blau mit weißen Wolken, grau durchzogen von Sonnenuntergangsrosa und -rot, in einer Ecke tiefblau mit einer schimmernd weißen Mondsichel.
Simon trat näher an eine Wand heran. Er hatte eine Straße entdeckt, die er kannte. Ja, das war das »Six Bells«, der Pub in der Nähe des Lokals, in dem er sich mit Ian Grint getroffen hatte, dem »Live and Let Live«. »Ist das …« Als er sich suchend nach Barbara umschaute, fiel sein Blick stattdessen auf die Bücher in den Regalen. Sie waren in ordentlichen Reihen aufgestellt, die Buchrücken exakt ausgerichtet. Den Titeln konnte Simon entnehmen, dass alle ein gemeinsames Thema hatten.
»Willkommen in Cambridge in Bracknell«, sagte Barbara.
Bücher über die Geschichte von Cambridge, über die Entstehung der Universität, das Bootsrennen, die Rivalität zwischen Cambridge und Oxford, über berühmte Menschen, die dort gelebt hatten, Cambridge und seine Künstler, Cambridge und die Autoren, die von der Stadt inspiriert worden waren, die Pubs von Cambridge, die Gärten von Cambridge, seine Architektur, seine Brücken, die Wasserspeier an den College-Gebäuden, Eine Kindheit in Cambridge , die Kapellen der Colleges von Cambridge, Cambridge und die Naturwissenschaft, die Spione aus Cambridge.
Simon entdeckte die Worte »Pink Floyd« – hatte er ein Buch gefunden, das das Muster durchbrach? Nein, es handelte sich um einen illustrierten Reiseführer für den Pink Floyd-Fan.
Am äußersten Ende eines Regalbretts stand ein unbenutzter Stadtplan von Cambridge – eine alte Ausgabe, wenn Kit seit 2003 nicht mehr in diesem Zimmer gewesen war, aber er wirkte brandneu. Auf dem Regalbrett darüber waren die Gelben Seiten und Telefonbücher von Cambridge aufgereiht.
Er merkte, dass Barbara neben ihm stand. »Wir
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