Das fremde Haus
Sie je das Gefühl gehabt, dass Ihr Herz von einem Lastwagen überrollt wird?« Sie presste beide Hände gegen die Brust. »So kam es mir vor, als ich diese Tür nach elf Jahren zum ersten Mal öffnete. Ich konnte es erst gar nicht begreifen – ich verstand nicht, was ich da sah. Jetzt verstehe ich es, nachdem ich meinen abwesenden Sohn ein bisschen besser kennengelernt habe.«
Elf Jahre. Schon wieder diese Zahl. Trotz der Hitze überlief es Simon kalt. Barbara musste den fragenden Ausdruck in seinen Augen gesehen haben, denn sie erklärte: »Nigel und ich wurden aus diesem Zimmer verbannt, als Kit achtzehn wurde. Als er nach seinem ersten Trimester an der Uni nach Hause kam, war das das Erste, was er sagte. Und es galt nicht nur für uns, die wir seine Eltern waren – der Bann galt für jeden. Danach hat niemand mehr diesen Raum betreten – dafür hat er gesorgt. Er hat nicht oft Freunde mitgebracht, aber wenn, blieben sie im Wohnzimmer. Selbst Connie war nie hier oben, früher, als die beiden noch zu Besuch kamen. Sie saßen im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer. Als sie sich kennenlernten, hatte Kit schon eine eigene Wohnung – ich glaube, Connie wusste gar nicht, dass er sein altes Zimmer behalten hatte. Ein Zimmer, das ihm wichtiger war als alle Räume, die er sonst bewohnte. Auf die Idee würde man auch nicht unbedingt kommen, oder? Die meisten Leute ziehen ganz aus, wenn sie ausziehen.«
Es sei denn, es gibt etwas, das man verbergen will oder muss, dachte Simon. Es würde wohl kaum jemand damit durchkommen, der Freundin, mit der er zusammenwohnte, das Betreten eines Zimmers der eigenen Wohnung zu verbieten. Und wenn er so darüber nachdachte, hatte er das Gefühl, dass die meisten Leute auch nicht damit durchkommen würden, ihren Eltern dieses Verbot aufzuerlegen. »Waren Sie in diesen elf Jahren nicht manchmal versucht, einen Blick in das Zimmer zu werfen?«
»Das hätte ich wahrscheinlich getan, aber Kit hatte ein Schloss an der Tür angebracht«, erklärte Barbara. »Die Tür da ist neu. Ohne Schloss, um die neue Zulassungspolitik zu symbolisieren: das Zimmer meines Exsohnes ist die ganze Woche für Publikum geöffnet, vierundzwanzig Stunden am Tag. Ich werde es jedem zeigen, der es sehen möchte«, schloss sie trotzig und kicherte dann. »Wenn Kit das nicht gefällt, kann er ja zurückkommen und sich beschweren.«
»Sie haben die alte Tür ausgewechselt, die mit dem Schloss?«, fragte Simon.
»Nigel hat sie eingetreten«, sagte Barbara stolz. »Nach dem ›Riesenkrach‹.« Sie malte Anführungszeichen in die Luft. »Sonst wären wir nicht reingekommen. ›Zumindest ist es sauber‹, war damals Nigels Kommentar, was eine ziemliche Untertreibung war – es war sauberer, als ich ein Zimmer je kriegen könnte, das ist mal sicher. Kit hat sich extra einen Staubsauger, Staubtücher und Möbelpolitur gekauft, die ganze Palette. Früher kam er alle vierzehn Tage vorbei und verbrachte ein paar Stunden in seinem Zimmer mit der Raumpflege – man konnte den Staubsauger hören. Ich glaube nicht, dass Connie das wusste – sie war ja so oft bei ihren Eltern, dass Kit an den Wochenenden herkommen konnte, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Sie tat Nigel und mir immer ein wenig leid in ihrer Unwissenheit, weil sie von etwas ausgeschlossen war, das ihm so viel bedeutete – als wären wir die Glücklichen, die in seine Geheimnisse eingeweiht waren. Weil wir von dem Zimmer wussten, auch wenn wir keine Ahnung hatten, was darin war.«
Barbara schüttelte den Kopf, und der Stolz wich der Frustration. »Es war idiotisch von uns, einem Achtzehnjährigen zu erlauben, uns aus einem Zimmer in unserem eigenen Haus auszuschließen. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich nicht mal zulassen, dass mein Sohn seine Zimmertür vor mir verschließt, noch weniger, dass er ein Schloss daran anbringt. Ich würde ihn mit Argusaugen beobachten, jede Sekunde eines jeden Tages.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf Simon, als wolle sie ihn damit an Ort und Stelle festnageln. »Ich würde die ganze Nacht an seinem Bett sitzen und ihn ansehen, während er schläft. Ich würde neben der Dusche stehen, während er duscht, sogar, wenn er auf der Toilette sitzt. Ich würde ihm keinerlei Privatsphäre erlauben. Er wäre entsetzt, wenn er mich jetzt hören könnte, aber das ist mir egal. Die Privatsphäre ist der Nährboden, aus dem alles Laster erwächst, wenn Sie mich fragen.«
»Können wir uns das Zimmer mal ansehen?« Simon fand
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