Das fremde Jahr (German Edition)
harmlose Streitereien zwischen Bruder und Schwester handelt. Dann, nachdem Herr Bergen sie zurechtgewiesen hat, werfen sich die beiden Kinder noch ein paar böse Blicke zu, und es wird ruhig. Sobald keiner mehr spricht, lege ich mir meine Worte zurecht und sage, dass ich in die Stadtbücherei gehen muss, für meine Recherchen über Thomas Mann. Ich erfinde, während ich rede, fasse mir ein Herz und erkläre, dass ich am
Zauberberg
arbeite, obwohl mir der deutsche Titel zuerst nicht spontan einfällt, ein Buch, das ich zu Beginn des Jahres im Gymnasium gelesen habe und das mich tief beeindruckt hat. Ich staune selbst darüber, wie ungezwungen mir mein Alibi über die Lippen kommt, und alle scheinen überrascht, dass ich mich für einen deutschen Schriftsteller interessiere – am meisten ich selbst. In den Prospekten, die mir vorab geschickt wurden, habe ich entdeckt, dass die Stadt, in deren Nähe ich leben würde, die Stadt von Thomas Mann ist, und das fand ich irgendwie beruhigend, keine Ahnung, warum, wahrscheinlich weil der Roman des Nobelpreisträgers für Literatur, den unser Philosophielehrer uns empfohlen hat, eines der wenigen Dinge ist, die mich in den letzten Monaten berührt haben; weniger das Buch selbst – das ich erst zur Hälfte gelesen habe und dessen Atmosphäre mich mehr beeindruckt hat als der Inhalt – als die Art, wie mein Lehrer davon gesprochen hat, als er vorne an seinem Pult stand, die Arme manchmal ausbreitete und die Brust herausdrückte, leidenschaftlich und mit leuchtenden Augen – ja, das war das Einzige, was mich von dem ablenkte, was bei uns zu Hause passierte, und während Papa und Mama sich den lieben, langen Abend lang Vorhaltungen machten, habe ich versucht, mich auf die Lektüre des
Zauberberg
zu konzentrieren. Ich lag auf meinem Bett, blätterte die Seiten um und spitzte oft die Ohren, um zu hören, was sie sich auf der anderen Seite der Zwischenwand an den Kopf warfen.
Der Zauberberg
war mein Refugium, aber ich ahnte natürlich nicht, dass ich noch einmal über dieses Buch stolpern und es mich ein weiteres Mal retten würde.
Unerwarteterweise ist Frau Bergen von meiner Idee, in die Stadtbücherei zu gehen, begeistert und schlägt vor, mich hinzufahren und mir bei den Anmeldeformalitäten zu helfen. Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt, meine Lungen sich verengen; ich merke, dass ich dringend Luft brauche und verspüre plötzlich den Wunsch, Simon anzurufen. Als ich ihm erzählt habe, dass ich ins Ausland gehen wollte, um für eine Zeitlang den Streitigkeiten unserer Eltern zu entkommen, die mit ihren Trennungsversuchen nicht vorankamen, sagte Simon, es sei eine gute Idee, fortzugehen und anderswo Atem zu holen. Er sagte »Atem holen«, und dabei ersticke ich hier. Ich ersticke, weil ich nie allein bin, und trotzdem habe ich mich noch nie so schrecklich einsam gefühlt.
Es ist Frau Bergen, die die Sonnenbrillen auswählt, die ich anprobieren soll. Ich habe Angst, dass sie zu teuer sein könnten, und schiele auf den Etiketten nach dem Preis, den ich im Kopf in Francs umrechne. Es ist kein guter Wechselkurs, genau wie ich befürchtet habe. Als ich eine Brille finde, die mir gefällt, besteht Frau Bergen darauf, sie mir zu schenken. Sie ist so hartnäckig, dass ich nicht wage, ihr Angebot abzulehnen, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Mir fehlen die nötigen Adverbien, um eine höfliche Ablehnung zu formulieren, all diese kurzen Wörter, in die eine Sprache verpackt ist, die wie Stützbalken sind und hier abdichten, dort dämpfen. Daran merkt man, dass man eine Fremdsprache beherrscht: wenn man mit diesen Abstufungen umgehen kann, Fingerspitzengefühl für diese Feinheiten hat. Doch davon bin ich noch weit entfernt, wie mir jeden Tag schmerzlich bewusst wird. Ich weiß nicht mehr, wie man »cela me gêne« – »das stört mich, ist mir peinlich« sagt, nicht im eigentlichen, sondern im übertragenen Sinne; ich möchte nicht, dass sie dann denkt, sie würde mich stören; nein, ich möchte genau das Gegenteil sagen, obwohl sie mich in Wirklichkeit tatsächlich stört, aber es gibt Wahrheiten, die man nicht aussprechen kann. Also nehme ich die Brille an, bedanke mich sicher etwas zu überschwänglich, und plötzlich beschleicht mich ein Verdacht. Hat Frau Bergen etwa vor, das Taschengeld, das mir zusteht, in Geschenke umzuwandeln? Wird sie mir gleich noch andere Dinge außer einer Sonnenbrille schenken? Will sie mich etwa auf diese raffinierte Weise von sich
Weitere Kostenlose Bücher