Das fremde Jahr (German Edition)
mir noch keinen Schlüssel gegeben hat, von der ich aber spüre, dass sie mich bald verschlingen wird. Allerdings verspüre ich keine Angst, sondern nur eine leichte Besorgnis, verstärkt durch den Eindruck dieser geheimnisvollen Atmosphäre. Ich frage mich, wer diese Menschen sind, die in Zeitlupe zu leben scheinen, ohne erkennbare Ansprüche oder Regeln, und die mich zwingen, vieles in mir zu verändern: meinen Rhythmus, meine Energie, meine Ansichten. Indem ich das Gegenteil des Lebens führe, das ich erlernt habe, erfahre ich eine andere Lebensform, die dem Anschein nach träge, entzerrt und frei ist. Ich entdecke eine neue Welt der Beziehung zwischen den Menschen, ohne Ängste, Leistungsdruck oder den Wunsch zu kontrollieren, was die anderen machen. Hier wird nicht geplant, niemand kümmert sich darum, dass die Zeit vergeht, niemand organisiert etwas, wenn das Wochenende naht. Niemand hat Angst vor dem Morgen. Zumindest habe ich diesen Eindruck.
Als ich am Samstagmorgen aufstehe, gibt es nichts Neues. Ich würde meine zwei freien Tage gern dadurch nutzen, indem ich mich der Familie entziehe, um dem Einfluss der Eltern und ihrer Kinder zu entkommen. Doch Frau Bergen scheint sich unbedingt um mich kümmern zu wollen. Nachdem alle gefrühstückt haben, hält sie mich noch im Wohnzimmer fest. Sie bietet mir nach dem Kaffee noch Tee an, dann noch einen Tee, während sie eine Zigarette nach der anderen raucht und mir einige Episoden erzählt, die sie während der Woche erlebt hat, aber natürlich bekomme ich wieder nicht alle Einzelheiten mit. Sie sagt auch, dass sie mir unbedingt den Weg zeigen möchte, der ins Dorf auf der anderen Seite des Wäldchens führt, wo wir die nötigsten Lebensmittel einkaufen werden. Wir können zu Fuß gehen oder den Wagen nehmen, ganz wie ich möchte. Ich traue mich nicht, ihr zu sagen, dass ich eigentlich mit dem Bus in die Stadt fahren wollte und lieber allein wäre. Ich höre mich liebenswürdig sagen, dass ich gern zu Fuß gehen würde, weil ich auch in Frankreich viel zu Fuß gehe, was eine glatte Lüge ist. Gut, ich bin zu Fuß zum Gymnasium gegangen, bevor ich mitten im Schuljahr aufgehört habe, aber das habe ich nicht freiwillig getan, sondern nur, weil es keine andere Möglichkeit gab. Ich muss auf Frau Bergen warten, die zuerst noch ins Bad gehen und sich anziehen muss. Ich weiß nicht, was ich in der Zwischenzeit tun soll, ich schalte den Geschirrspüler an und fange an, das Wohnzimmer aufzuräumen. Ich lege die Zeitungen und Illustrierten auf einen Haufen, leere die Aschenbecher, streiche die Decke auf dem Sofa glatt, rücke die Kissen zurecht, sammle die herumliegenden Kleidungsstücke und Schuhe ein, räume die Reste des Abendessens vom Vortag vom Beistelltisch. Ich würde gern staubsaugen, halte mich aber zurück, aus Angst, Frau Bergen könnte es in den falschen Hals bekommen; ich möchte nicht, dass sie glaubt, ich würde mich an ihren Platz drängen wollen, ich will mich nicht aufspielen, allzu eifrig erscheinen. Also beschränke ich mich auf das Nötigste, da ich nicht weiß, wo mein Aufgabenbereich anfängt oder endet. Die Kinder sind noch im Schlafanzug, Nina tobt oben mit dem Hund herum, Thomas schaut in seinem Zimmer fern. Wenn man den Fernseher im Elternschlafzimmer dazuzählt, gibt es in diesem Haus drei Fernsehgeräte für vier Personen. Simon wird staunen, wenn ich ihm das schreibe. Er wird sich bestimmt auch daran erinnern, was für einen Aufstand es bei uns gab, als Papa den Vorschlag machte, den alten Fernseher in Simons Zimmer zu stellen, sobald wir uns einen neuen gekauft hätten. Simon sei der Älteste, hat er gesagt, und dann könne er »in seinem Zimmer« in Ruhe fernsehen. In Wirklichkeit wollte mein Vater auf diese Weise nur im Wohnzimmer wieder allein das Sagen haben, denn mein Bruder hatte in letzter Zeit ständig über seine Programmwahl gemeckert. Mein Vater hatte geglaubt, auf diese Art ein Problem zu lösen, hat aber nur ein anderes ausgelöst, denn meine Mutter fiel natürlich nicht auf diese Heuchelei herein und nutzte die Gelegenheit, um ihm seine Widersprüche unter die Nase zu reiben. Was mich an Mama stört, ist ihre Sturheit, ihr glasklarer Scharfblick und das niederträchtige Spiel, das sie mit Papa treibt, indem sie ihn zu Fehlern verleitet, die sie ihm hinterher unter die Nase reibt. Papa kann tun, was er will, es ist in ihren Augen immer falsch. Was immer er denkt, er täuscht sich. Er nennt meine Mutter dann »Madame
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