Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
Vom Netzwerk:
Erfahrung mache. Ich sage ihr, was sie hören will: wie schnell ich mich eingelebt habe, wie viel ich zu tun habe und wie herzlich mein Verhältnis zu den Kindern ist. Das ist nun fast gelogen, und wir lügen uns gegenseitig ungefähr zehn Minuten lang an, wobei sie hauptsächlich über praktische Dinge spricht, die den häuslichen Alltag ausmachen: dass neben dem Treppenhaus endlich ein Aufzug eingebaut wird und – das war das wichtigste Ereignis der Woche – einer der beiden Sittiche davongeflogen ist. Für den Rest des Gesprächs versuchen wir das rätselhafte Verschwinden des Sittichs zu lösen, und ich frage mich, wie Simon es schafft, das alles zu ertragen: das belanglose Geplapper meiner Mutter, ihre Art, das Wesentliche zu verschleiern und so zu tun, als mache sie sich nur um den verschwundenen Sittich Sorgen, während das Leben in unserem Haus nur noch aus einer merkwürdigen Gnadenfrist besteht, der Countdown in Richtung eines gähnenden Abgrunds läuft, der ins Nichts führt; ich weiß nicht, wie Simon es schafft, dem erbärmlichen Schauspiel beizuwohnen, in dem mein Vater und meine Mutter sich an denselben Tisch setzen, voller Hass aufeinander, und sich gegenseitig beschuldigen, den anderen für alles verantwortlich machen, für das eigene Scheitern, die unbezahlten Überstunden, die nicht richtig auskurierte Grippe und vor allem für den Tod meines kleinen Bruders. Das geht so seit dem Tag, an dem meine Mutter diesen einen Satz zu viel gesagt hat, den Satz, den wir, Simon und ich, niemals hätten hören dürfen, den Satz, der die Grenze markierte, den Satz, der besagt, dass mein Vater für das Geschehene verantwortlich ist. Ein nicht haltbarer Vorwurf natürlich, über dessen Bedeutung wir tage- und nächtelang nachgrübeln müssen, bis wir seine Boshaftigkeit erkennen; ein Satz, der aus Andeutungen besteht, absolut doppeldeutig ist, dessen wahre Bedeutung jedoch keinem entgehen kann, der Französisch als Muttersprache hat. Meine Mutter hat gesagt, dass sie, wenn sie sich recht erinnere, niemals mit dem Kauf des Mofas einverstanden war. Daraufhin hat mein Vater geantwortet, er wünschte, sie wäre sich sicher, statt ihm etwas zu unterstellen, das schlichtweg falsch ist. Meine Mutter sagte, sie sei sich praktisch sicher, und dieses »Praktisch« hat meine Eltern gegeneinander aufgebracht und ihrem Kummer eine weitere Belastung hinzugefügt. Und das Groteske dieses »Praktisch« beraubt meine Eltern immer mehr ihrer ohnehin kaum noch vorhandenen Kraft, es sei denn, ihre Wortgefechte seien der einzige Ort, an dem sie noch aufrecht stehen – jeder hinter seiner Meinung verschanzt, in seinen Stolz gehüllt, meine Mutter fest davon überzeugt, dass sie niemals ein Mofa im Haus haben wollte (das es dann aber doch gab), während mein Vater den ungerechten Vorwurf, der einzig Verantwortliche zu sein, vehement von sich weist. Kann man ein Drama allein auf die Sprache zurückführen? Meine Mutter hätte niemals ihre Zustimmung gegeben, was bedeutet, dass sie niemals ja gesagt hat, was aber, wenn sie eventuell auch nicht nein gesagt hat? Wenn meine Mutter nur insofern zugestimmt hätte, als dass sie sich nicht kategorisch widersetzt hat? Vermutlich hat sie bei einer Diskussion, die alle außer ihr vergessen haben, einige Vorbehalte geäußert und das ausgesprochen, was alle Eltern befürchten: dass es zu einem Unfall kommen könnte, einem Unfall mit tödlichem Ausgang. Sie hätte kein Mofa gewollt, aber eigentlich will ja niemand ein Mofa im Haus, außer dem Jugendlichen, der Tag für Tag von nichts anderem redet und behauptet, dass man so Monat für Monat die Kosten für die Busfahrkarte zur Schule spare. Und die Sache mit dem Monatsabo für den Bus – daran erinnere ich mich noch gut, wurde an einem Sonntagabend bei Tisch diskutiert, als wir von einem Besuch bei den Großeltern zurückgekommen waren. Eigentlich nicht wirklich diskutiert, aber ich bin mir sicher, dass meine Mutter dafür empfänglich war. Natürlich wollte sie kein Mofa, genauso wenig wie sie drei Kinder gewollt hatte, aber sie waren nun einmal gekommen, und nachdem die Kinder da waren, hat sie sich damit abgefunden, sagen wir ruhig, dass sie sich sogar darüber gefreut hat, aber Kinder sind nun mal sterblich, und somit beschlich sie gleichzeitig auch die Angst, sie wieder zu verlieren. Mein Vater ist ebenfalls dafür verantwortlich, dass diese Kinder kamen, ebenso wie er für den Vorschlag verantwortlich war, Simon den alten Fernseher zu

Weitere Kostenlose Bücher