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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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geben. In diesem Punkt hatte meine Mutter die Kraft gehabt, ein Veto einzulegen. Sie war dagegen, das alte Fernsehgerät in Simons Zimmer zu stellen, aber da war es schon zu spät, ihr jüngster Sohn war bereits tot.
     

Es ist einer meiner ersten Sonntage hier und ich würde am liebsten unter meiner Decke liegen bleiben, da mich der gestrige Anruf meiner Mutter ziemlich mitgenommen hat. Doch da klopft es an meiner Tür, obwohl es noch nicht einmal neun Uhr ist. Herr Bergen steht da, mit einer Tasse Kaffee. Er tritt ein, setzt sich auf mein Bett, und es ist mir peinlich, weil mir sicher sämtliche Haare vom Kopf abstehen und mein Gesicht vom Schlaf verquollen ist. Ich finde es taktlos, dass er ungebeten in mein Terrain eindringt, die wenigen Quadratmeter Privatsphäre, die ich habe, aber sein ungewohntes Lächeln sagt mir, dass es einen Grund gibt, der mich irgendwie betrifft. Mit seinem rollenden R erklärt er mir, dass wir einen Ausflug machen werden, ich kann das Verb »spazieren fahren« identifizieren, ebenso wie das Wort »Grenze«. Daraus schließe ich, dass für diesen Morgen eine Fahrt bis an die Grenze auf dem Programm steht, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, denn Grenze kann sowohl »frontière« als auch »limite« oder »lisière« bedeuten. Gehen wir bis zur Erschöpfung (à la limite) oder am Rand (lisière) des Waldes, oder aber an der frontière (Grenze) spazieren? Ich sehe mich im Geiste schon wieder am Waldrand entlangstapfen, mit beiden Füßen im hohen Schnee und mit Frau Bergen am Arm, die eine Zigarette im Mundwinkel hängen hat und nicht weiß, in welche Richtung wir gehen müssen. Ich weiß nicht recht, von welcher Grenze er spricht, ich habe mir nicht die Mühe gemacht, auf einer Deutschlandkarte genau nachzusehen, wo ich mich befinde. Ich weiß nur, dass ein paar Kilometer weiter nördlich die Ostsee liegt – beim Aussteigen habe ich im Zug eine Karte von Norddeutschland gesehen – und dass dann Dänemark kommt, das mir irgendwie unerreichbar erscheint. Ich werde sauer auf mich, weil ich nichts antworten kann außer »jawohl« und nicht fähig bin, auch nur die banalste Frage zu stellen. Aber immerhin schaffe ich es zu fragen, um wie viel Uhr es losgeht, dann bedanke ich mich für den Kaffee, der noch heiß ist. Trotzdem stehe ich nur widerwillig auf und frage mich, ob mich die Bergens irgendwann mal in Ruhe lassen werden. Als ich mich in dem Spiegel im Schrank betrachte, sage ich mir zum wiederholten Male, dass ich endlich meine eigenen
Grenzen
ziehen muss – ah, schon wieder dieses Wort. Im Moment bin ich noch in der Eingewöhnungsphase, sage ich mir, aber bald werde ich aktiv werden, sprich: selbst über mein Leben entscheiden. Ich weiß nicht, ob mich die Bergens für ihr drittes Kind halten, vielleicht machen sie da keine Unterscheidung, da mir scheint, als wollten sie auf mich aufpassen, mich überallhin begleiten, meine Einkäufe bezahlen und mich auf die Rückbank zwischen Nina und Thomas setzen. Wir sind erst wenige Kilometer gefahren, als Herr Bergen neben einer schmalen, einsamen Straße anhält, mitten im Niemandsland, und ich werde sofort unruhig. Wie geht es weiter? Ganz einfach: Die Eltern zünden sich Zigaretten an, steigen aus und atmen in vollen Zügen durch, als stünden wir auf einem hohen Berg oder an der Küste eines glitzernden Meeres. Das Lächeln auf ihren Lippen soll mir sagen, dass alles in Ordnung ist, doch es macht mich eher beklommen, denn das Lächeln von Eltern hat in meinen Augen bisher nie etwas Gutes bedeutet. Ich beobachte lieber die Kinder, die sich offenbar nicht viel aus diesem Sonntagsausflug machen, und ich denke an unsere Ausflüge in Frankreich zurück, als wir mit den Rädern zum Wasserschloss gefahren sind oder zu Fuß auf dem Treidelpfad am Fluss entlangmarschiert sind, was meine Brüder und mich fast wahnsinnig machte, nachdem wir in die Pubertät gekommen waren. Der einzige Trost bestand darin, dass wir zusammen waren, Simon als ewiger Meckerer, und Leo, der als Nachkömmling die älteren Geschwister nachahmte, sowie ich, die ich stocksauer war, weil ich lieber bei meinen Freundinnen gewesen wäre, die den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer herumhängen durften und nicht unter dem Leitmotiv ihrer Eltern zu leiden hatten, die geradezu davon besessen waren, ihre Kinder an die frische Luft zu jagen. Vermutlich dachten sie, dass wir, sobald wir eine andere Luft atmen als die in unserer Wohnung, Dampf – oder vielmehr Luft ablassen

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