Das fremde Jahr (German Edition)
würden, als wären wir allzu pralle Luftballons. Wenn wir dann unterwegs waren, haben sie uns nicht etwa in Ruhe unsere aufgestaute Wut verdauen lassen, sondern wir mussten recht schnell gehen, damit das Blut ins Fließen kommt und die Körper von uns abgestumpften Stadtbewohnern wieder rein würden. Wir waren absolut lächerlich – unsere Eltern in ihrer makellos gebügelten Freizeitkleidung, etliche dutzend Meter vor uns, während wir hinter ihnen herschlurften und uns schworen, dass es wirklich das allerletzte Mal war, dass wir uns das nächste Woche nicht mehr gefallen lassen und zu Hause bleiben würden; gleichzeitig machten wir uns darüber lustig, was für wohlerzogene Kinder wir doch waren, perfekt abgerichtet, so dass unsere Eltern sich der Bewunderung ihrer Bekannten und der gesamten Gesellschaft sicher sein konnten.
Nina und Thomas gehen als Erste los, nehmen eine Abkürzung über ein Feld, das mehr schlammig als verschneit ist, dann warten sie auf mich. Wir gehen zu dritt voraus, die Köpfe in den Kapuzen vergraben, die Hände in den Taschen, auf den Schultern die kleinen Rucksäcke mit unserem Picknick. Nach etlichen hundert Metern sehe ich Wachtürme und begreife, dass wir an der Grenze sind, der Grenze, die West- von Ostdeutschland trennt. Ich kann es noch nicht fassen, dass ich tatsächlich hier bin, an der im Geschichtsunterricht so oft erwähnten Linie, der symbolischen, aber absolut realen Grenzlinie, die durch einen mehrere Meter hohen Maschendrahtzaun gekennzeichnet ist. Herr Bergen reicht mir sein Fernglas, und ich kann, nachdem ich an dem Rädchen gedreht habe, die Soldaten oben auf den Wachtürmen sehen, bewaffnet und behelmt, leibhaftige Männer, deren abschreckende Anwesenheit mir die Intensität der Situation bewusst macht und mich die Bürde der Geschichte spüren lässt. Wenn ich bis zum Abitur durchgehalten hätte, wäre mit Sicherheit auch der Zweite Weltkrieg durchgesprochen worden. Aber unabsichtlich habe ich diese Reise gemacht, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, und dieser Sonntag ist vermutlich wertvoller als jede Geschichtsstunde. Am Drahtzaun hängen Schilder, die jeden davor warnen, darüberzuklettern, und ich kann das Wort »Lebensgefahr« erkennen, was ich etwas seltsam finde, denn wir Franzosen sprechen von »danger de mort« – Gefahr von Tod. Eine Frage der Logik. Das Leben ist in Gefahr.
Wenige Meter von dem Drahtzaun entfernt, packen wir das Picknick aus den Rucksäcken aus, und weitere Familien treffen ein, die denselben Spaziergang machen, die Wachtürme betrachten, ihre Hunde nicht von der Leine lassen und ihr Roggenbrot und ihre Salamischeiben auspacken. Es gibt keine Sitzgelegenheiten, und deshalb essen wir im Stehen, nach Osten gewandt, und die endlose Schneefläche, die sich vor uns erstreckt, bekommt plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Ich weiß, dass es hinter dieser Grenze eine verbotene Welt gibt, die man sich als erschreckend vorstellt, da man sie nicht kennt. Nina reicht mir einen Apfel und sagt, dass ihre Großmutter auf der anderen Seite wohnt.
Ich möchte den
Zauberberg
auf Deutsch lesen, weil ich glaube, dass ich auf diese Weise rasche Fortschritte machen würde. Doch das Buch gibt es nicht in der Stadtbücherei, deshalb kaufe ich es in einer Buchhandlung, fest davon überzeugt, dass ich das dicke Buch bis zum Ende meines Aufenthalts zu Ende lesen kann. Jedenfalls zwinge ich mich, jeden Abend eine oder zwei Seiten zu lesen, die Wörter, die ich nicht kenne, im Wörterbuch nachzuschlagen und in ein Heft zu schreiben. Wenn ich die Wäsche zusammengefaltet, die zueinandergehörenden Socken zusammengelegt, den Tisch abgeräumt und den Geschirrspüler eingeschaltet habe, Nina beim Aufräumen ihres Zimmers geholfen und einen langen Brief an Simon geschrieben habe, begebe ich mich Abend für Abend zu Hans Castorp, dem verwaisten jungen Mann im Sanatorium von Davos. Hans, dessen große Reise mir erlauben wird, in die deutsche Sprache und in die deutsche Geschichte einzutauchen. Ich lege mein Vertrauen in die Hände von Thomas Manns armem Helden und hoffe, dass er mich von meiner Vergangenheit ablenken wird und mich meine Gegenwart besser ertragen lässt. Davon gehe ich zumindest aus, als ich mich allabendlich daranmache, die verlorene Zeit aufzuholen.
Ich kämme Ninas lange Haare und sie lässt es inzwischen ohne Theater und ohne Grimassen zu schneiden über sich ergehen. Der Tag bricht gerade an, wenn wir an der Haltestelle des
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