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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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Schulbusses ankommen. Ich spiele Karten mit den Kindern, und Nina und ich raufen uns manchmal auf dem Wohnzimmerteppich und seltsamerweise ist es immer Nina, die gewinnt. Wahrscheinlich steht sie mir in Sachen Nervosität und Gewicht nicht viel nach. Ich verbringe lange Stunden bügelnd vor dem Fernseher und verstehe allmählich besser, was die langen Sätze bedeuten. Frau Bergen zündet eine Zigarette nach der anderen an, und irgendwann wage ich, ihr zu sagen, dass es nicht gut für sie ist. Da lächelt sie traurig, und ich mag die Art nicht, wie sie meinem Blick ausweicht. Herr Bergen steht spät auf, trinkt mehrere Tassen Kaffee und sitzt dabei immer im gleichen Sessel. Dann geht er wieder nach oben und nimmt ein Bad, das endlos lange dauert. Thomas lässt sein Mofa anspringen und kommt erst am Nachmittag zurück. Er nimmt den Helm ab, schüttelt seine langen Haare und stürmt in die Küche, um zu sehen, was es zu essen gibt. Sein Mofa verliert immer noch Benzin, so dass es in meinem Zimmer nach wie vor fürchterlich stinkt. Frau Bergen fährt mich regelmäßig zur Stadtbücherei, und wir kommen manchmal immer noch erst dort an, wenn sie schon schließt. Samstagmorgens geht sie hin und wieder im Schnee spazieren und wirft Tannenzapfen, die Naphta im Flug auffängt. Ich fahre mit Frau Bergen zum Supermarkt, aber sie kauft keine Leber mehr. Sie gibt mir jede Woche das vereinbarte Taschengeld, und ich weiß immer noch nicht, wie viele Stunden ich denn nun pro Woche arbeiten soll. Meine Mutter ruft grundsätzlich am Wochenende an, hat aber nie etwas zu sagen, und meinen Vater holt sie nur selten an den Apparat. Ich erhalte Briefe von Simon, manchmal mehrere Seiten lang, dann wieder nur eine, und das ist immer der Höhepunkt der Woche. Am wohlsten fühle ich mich hier, wenn ich auf meinem Bett liege, eine Kassette der
Stranglers
höre: »No more heroes any more«, die mein Bruder mir geschickt hat. Ich lese Simons Briefe ein erstes Mal, dann noch einmal und konzentriere mich auf die Stellen, die mir am besten gefallen haben. Seine Briefe sind lustig, ich liebe den Humor meines Bruders, die Art, wie er aus Schwarz Rosa macht; ein Glück, dass er dieses Talent hat, denn man muss stark sein, um das ganze Schwarz verarbeiten zu können, von dem er umgeben ist. Wenn ich seine Worte lese, höre ich seine Stimme, auch die leichte Ironie darin, und ich sehe seine dunklen Augen, lasse sie mir aber nicht mehr zu nahe kommen, wegen dem, was ich darin gelesen habe. Thomas schaut in seinem Zimmer fern, Nina leistet ihm Gesellschaft. Frau Bergen lässt die Toasts am Sonntagmorgen häufig anbrennen. Wenn Herr Bergen ans Telefon geht, tut er das mit einer Ruhe, die mich schmunzeln lässt. Frau Bergen lässt ihr Badewasser nicht ablaufen, nachdem sie gebadet hat. Die Kinder sollen nach ihr darin baden. Die Schmutzwäsche sammelt sich im Wäschekorb an, doch Frau Bergen sagt mir nie, ich solle sie waschen. Ich kann Herrn Bergens Hemden inzwischen faltenfrei bügeln. Thomas trägt noch keine Hemden, sondern nur Kapuzen-Sweatshirts. Thomas kommt oft zu mir in die Waschküche, hier unterhalten wir uns offenbar am liebsten. Dank des Heizkessels, der in regelmäßigen Abständen anspringt, ist es hier schön warm. Thomas setzt sich auf die Waschmaschine, und ich lehne mich an das große Waschbecken.
     
    Am Samstagabend kommen manchmal Freunde der Bergens zu Besuch, und diese Abende enden nicht selten in der Diskothek, die neben meinem Zimmer liegt. Da geschieht nichts Besonderes. Es sind immer dieselben Paare. Alle reden ganz laut, um sich Gehör zu verschaffen, und die Musik bringt die mit Holz verkleidete Zwischenwand fast zum Beben. Alle trinken Bier, mit Ausnahme von mir leider, die ich kein Bier mag, doch dadurch errege ich natürlich Aufmerksamkeit. Ich nehme eine Coca-Cola, und die Freunde der Bergens schließen daraus, dass die Franzosen nur Cola trinken – so als würde ich ganz Frankreich vertreten. Dann kommt der Moment, wenn alle tanzen, und ab da wird es etwas kompliziert, denn meinetwegen sind wir immer eine ungerade Anzahl – sieben oder neun Personen – auf jeden Fall eine ungerade Zahl, und den Tanzenden ist es offenbar peinlich, wenn ich abseitsstehe. Ich sehe die Erwachsenen tanzen, und statt mich von der Musik und den Spotlights mitreißen zu lassen, würde ich plötzlich am liebsten losheulen; ich frage mich, was ich hier mache, an einem Samstagabend über tausend Kilometer weit weg von zu Hause, während die anderen

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