Das fremde Jahr (German Edition)
natürlich nach ihr, Dutzende von Malen, ich rufe und schreie, sie solle sich zeigen. Hört sie mich überhaupt? Ich rufe, sie solle aufhören, sich zu verstecken. Ich gehe bis an den Waldrand, doch in dem matschigen Schnee sind keine Fußspuren zu sehen, ich rufe trotzdem über die Tannen hinweg, schreie sinnloses Zeug, flehe Nina an, mich nicht im Stich zu lassen, ich schreie auf Französisch, werde immer aufgeregter, laufe zwischen die Bäume, verliere mich in dem undurchdringlichen Wald; es ist inzwischen nicht mehr Nina, die ich suche, sondern es ist Leo, doch ich habe bald schon keine Stimme mehr, mein Brustkorb schmerzt, und ich würde mich am liebsten unter die Tannen legen, von deren Ästen geschmolzener Schnee tropft. Ich kauere mich inmitten der Farne auf den Boden und bleibe eine geraume Zeit dort sitzen, ich habe das Gefühl, die tausend Kilometer zurückgelegt zu haben, um endlich zu wagen, nach Leo zu suchen, und ich bilde mir ein, ihn hier finden zu können, in der feuchten Kälte eines einsamen, frühen Morgens, auf einem schlecht erhellten Weg, der an den Gleisen entlangführt, doch Leo ist ebenso wenig in diesem deutschen Wald wie in einer anderen Gegend unseres Planeten. Ich kann rufen, so lange ich will, ich kann Leos Namen mit dem von Nina verwechseln, meine Stimme hallt zu mir zurück, zart und schwach, in einem verzweifelten Echo, und ich begreife, während ich hier unter den Bäumen kauere, außer Atem und leer, dass Leo nie mehr zurückkommen wird. Ich habe so viel Zeit gebraucht, um mir dessen endlich sicher zu sein. Fast ein Jahr.
Thomas steht in der Küche. Er begreift sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich will ihm sagen, dass Nina verschwunden ist, aber ich weiß nicht mehr, ob man »sie hat verschwunden« oder »sie ist verschwunden« sagt. Ich will Thomas nicht erschrecken und versuche, ruhig zu bleiben. Thomas beschwichtigt mich, Nina verschwindet regelmäßig, das hat Frau Bergen mir schon am Anfang zu erklären versucht, aber offenbar habe ich es nicht verstanden, wahrscheinlich habe ich nur dümmlich genickt und gelächelt und nicht gewagt, sie zu bitten, ihren Satz zu wiederholen. Ich gestehe Thomas, dass Nina nicht zur Schule gehen wollte und dass ich sie dazu zwingen wollte. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Er erklärt mir: »Sie kann nicht.« Er sagt nicht: »Sie will nicht.« Ich hoffe, dass er mir eines Tages den Unterschied zwischen diesen beiden Sätzen erklärt, ich würde gern verstehen, was Nina daran hindert, in die Schule zu gehen, sie wirkte nicht krank, ich habe nichts bemerkt. Vielleicht ist es dasselbe, was mich daran gehindert hat, weiter aufs Gymnasium zu gehen? Ein unsichtbares Leiden, das irgendwo in der Magengegend wohnt, ein kleines ausgehungertes Tier, das einem die Eingeweide auffrisst und sich im Brustkorb einnistet. Thomas hilft mir bei der Suche nach Nina, wir nehmen Naphta mit und sind voller Hoffnung. Nina ist nicht weit weg, sie kommt uns auf halbem Weg entgegen. Ich staune, wie froh ich bin, sie zu sehen. Ich drücke sie an mich, dann gehen wir zu dritt nach Hause zurück. Nachdem wir unsere Stiefel ausgezogen haben, fallen wir erschöpft aufs Sofa. Die Eltern sind noch nicht aufgestanden.
Es ist das erste Mal, dass ich den Bus nehme, um allein in die Stadt zu fahren. Niemand hat vorgeschlagen, mich zu begleiten. Ich habe den Eindruck, dass die Bergens irgendein Problem haben müssen, sie vergessen mich ein bisschen. Ich nehme die kleine Straße unterhalb des Hauses und bin nach etwa zehn Minuten an der großen Straße. Ich kaufe mir eine Fahrkarte und setze mich in dem halbleeren Bus nach hinten. Es ist ein grauer Tag, die Straße ist nass, ich muss die beschlagene Fensterscheibe sauber wischen, um etwas von der Landschaft sehen zu können. Ich lasse mich von der Wärme einlullen, von der ich aber rasch Kopfschmerzen bekomme. Der Schnee ist weitgehend geschmolzen und die gebrochenen Farbtöne erzeugen eine Atmosphäre aus Sepiabraun und früheren Zeiten. Ich fühle mich unerwartet in dieses fremde Land versetzt, wie in eine andere Epoche und in ein anderes Leben, und ich betrachte die Wälder und die Wiesen und Felder, als wären sie nur ein provisorisches Bild, eine Kulisse, die jeder Konsistenz oder Realität entbehrt. Ich lege den Kopf an die kalte Glasscheibe und spüre eine Müdigkeit in mir aufsteigen, die bleischwer auf meinen Gliedmaßen lastet. Es ist die Müdigkeit, die ich die ganze Zeit schon verspüre. Ich denke an Simon, so
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