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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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Kissen und Wandteppichen. Ich erzeuge einen schwachen Luftzug, indem ich das Klappfenster in meinem Zimmer öffne. Wenn ich dann meine Zimmertür auflasse, kann die Luft im Kellergeschoss zirkulieren, und ich frage mich, ob dieses Bedürfnis zu lüften nicht richtiggehend zwanghaft ist.
     
    Nina geht nicht jeden Tag zur Schule. Manchmal darf sie zu Hause bleiben. Ich wüsste zu gern, was sie daran hindert, aus dem Haus zu gehen. Ich erfahre es nie im Voraus, es entscheidet sich erst nach dem Aufwachen am Morgen. Wenn ich sie zwingen will, aufzustehen, klammert sie sich manchmal an ihre Bettdecke. Zuerst sagt sie, ich solle kein Licht anmachen, dann schüttelt sie den Kopf, und wenn ich sie anfasse, stößt sie mich so heftig zurück, dass ich lieber nichts mehr sage. Ich warte ein paar Minuten, gehe wieder nach unten in die Küche und bereite das Frühstück zu, obwohl ich weiß, dass Nina sich weigern wird, etwas zu essen. Trotzdem schneide ich Brot, bestreiche es mit Erdnussbutter, mache die Kaffeemaschine an und gehe dann noch einmal nach oben, um einen zweiten Versuch zu starten. Ich betrete Ninas Zimmer ganz leise, sage ihr, dass es schon spät ist, hebe die Kleidungsstücke auf, die sie vor ihr Bett geworfen hat. Ich versuche es mit einer Frage, die sie nicht mit ja oder nein beantworten kann. Ich frage, ob sie eine oder zwei Scheiben Brot will, ob sie lieber ein Kleid oder eine Hose anziehen möchte. Aber Nina dreht sich nur auf die andere Seite, zieht sich die Decke über den Kopf und wartet, dass ich wieder hinausgehe. Doch ich setze mich auf ihre Bettkante, fühle mich ohnmächtig, vermute, dass Nina nur launisch ist und werde instinktiv sauer. Zögernd stehe ich vor der Tür des elterlichen Schlafzimmers. Soll ich klopfen? Ich lausche. Hinter der Tür scheint sich nichts zu rühren, wahrscheinlich schlafen beide noch. Da höre ich Nina aus ihrem Zimmer rufen, dass es nichts nützt, ihre Eltern zu wecken, sie wüssten Bescheid und hätten nichts dagegen, dass sie heute zu Hause bleibt. Ich glaube ihr nicht und kleide sie gegen ihren Willen an. Endlich gibt sie klein bei und geht die Treppe hinunter, indem sie auf ihre rebellische Art die Stufen hinuntertrampelt; doch sie legt sich nur im Wohnzimmer aufs Sofa, zieht Naphta zu sich hoch und drückt ihn ungestüm an sich. Nina verweigert die gestrichenen Brote, die ich ihr hinstelle, das Glas Milch, den Orangensaft. Sie zieht die Stiefel wieder aus, die ich ihr mühsam angezogen hatte. Ich muss mich zusammenreißen. Es kostet mich große Mühe, und ich weiß nicht, wie ich diese Situation lösen kann, ohne die Beherrschung zu verlieren. Ich greife zu verschiedenen Methoden, um mein Ziel zu erreichen: zuerst die sanfte, dann die komplizenhafte und schließlich die autoritäre Art, aber nichts hilft. Nina liegt nach wie vor auf dem Sofa, ist weder gewaschen und gekämmt, und wir müssen in spätestens fünf Minuten aus dem Haus gehen, wenn wir noch rechtzeitig an der Bushaltestelle sein wollen. Schließlich sage ich zu Nina, sie müsse zur Schule gehen, ich glaube, dass ich das richtige Hilfsverb gefunden haben, »müssen«, das eine Verpflichtung bedeutet, zu der es keine Alternative gibt. Etwas anderes fällt mir im Moment nicht ein, ich verlasse mich auf meinen gesunden Menschenverstand und sage: »Du musst zur Schule gehen.« Und dieser kleine, unbedeutende Satz, klar und eindeutig, ist ein Befehl und offenbar effizient und beruhigend, denn Nina schlüpft brav wieder in ihre Stiefel, wäscht sich am Wasserhahn in der Küche das Gesicht und bindet ihre Haare mit einem Gummi zusammen. Als ich die Haustür hinter uns schließe, wirft sie mir einen halb anklagenden, halb verzweifelten Blick zu, der mich an die Blicke erinnert, die mein kleiner Bruder Leo meinem Vater zuwarf, wenn dieser ihm einen Gefallen verweigerte. Wir gehen nebeneinander durch das noch zaghafte Morgengrauen, schweigend, und außer den Geräuschen unserer Stiefel auf dem fast geschmolzenen Schnee ist nichts zu hören. Dann, wie jeden Morgen, lässt Nina mich hinter sich zurück, indem sie einfach ihren Schritt beschleunigt, und unser kleines Spielchen fängt wieder an, mit dem Unterschied, dass Nina an diesem Morgen so schnell rennt, dass sie rasch hinter der letzten Kurve verschwindet. Und als ich an der Bushaltestelle ankomme, steht niemand da. Ich drehe mich im Kreis, suche mit den Augen das Halbdunkel ab, renne los, weiß aber nicht, ob ich in die richtige Richtung laufe. Ich rufe

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