Das fremde Jahr (German Edition)
könnte, einen Brief mit einer deutschen Briefmarke zu öffnen, wenn er im Briefkasten liegt – vielleicht, um zu erfahren, was sie nicht weiß? Und gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob meine Mutter wirklich Lust haben könnte, zu erfahren, was Simon und ich uns anvertrauen. Ich denke, dass sie zögert, den Brief in den Händen hält und hin- und hergerissen ist. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter den Grund meiner Abreise verstanden hat, wie auch? Ich habe nichts gesagt, das sie auf die richtige Spur bringen würde. Ich wusste es selbst nicht, alles war so kompliziert. Das Gymnasium, auf das ich nicht mehr gehen wollte, wenige Monate vor dem Abitur, die Tatsache, dass ich plötzlich nicht mehr in den Unterricht gehen konnte, die Tage, die ich zu Hause verbrachte, ziel- und haltlos, meine Bewerbung bei einer Zeitarbeitsfirma, wenige Tage in einer Lagerhalle, wo ich Nagelfeilen verpackt habe, die Abende, an denen meine Mutter versucht hat, mir ein paar Worte zu entlocken, und in denen ich nichts hatte, was entfernt nach einer Zukunft aussah. Ich wusste nicht, was ich wollte, doch ich begann zu begreifen, was ich nicht mehr ertragen konnte: die Wohnung mit meinen Eltern, hinter den verschlossenen Türen ihrer Schuldgefühle verschanzt, ihre Bemühungen, ihren Kummer zu unterdrücken, um ihre gegenseitigen Hassgefühle hinter sich zu lassen; die neuesten Einfälle meiner Mutter, um uns auf »andere Gedanken« zu bringen, ihr künstlich-»optimistischen« Anwandlungen, ihre hartnäckigen Versuche, die Vergangenheit zu vergessen, stark und ein Vorbild zu sein, meine Mutter, die wir nie weinen sahen, auch nicht jammern oder gar über ihren Kummer reden, nein, alles, nur das nicht – meine Mutter, mit ihrer Maske einer Heuchlerin, ihren voluntaristischen Aussagen, ihren vorgefertigten Redensarten, bei denen es mir kalt den Rücken hinunterlief, ihrem Kampf als Frau, die niemals untergeht, unbesiegbar und nicht totzukriegen ist; meine Mutter, die Tag für Tag lächelt, als wohne Gott persönlich in ihr, die jedem Ansatz eines Gesprächs ausweicht, hat uns jede Möglichkeit genommen, einen Raum für Leo zu schaffen, und sei er auch noch so klein; indem sie den Nachbarn und der Familie das Gesicht einer Frau gezeigt hat, das sie für das Gesicht einer ehrenwerten Frau hielt, hat meine Mutter Leos Existenz einfach ad acta gelegt und somit auch unsere Erinnerungen. Und das, was sie mir einmal pro Woche am Telefon erzählt, die Art, wie sie die Sätze verbiegt, um ja kein Risiko einzugehen, bis hin zur Betonung, beweist mir, dass sie nach wie vor in ihrer Isolation gefangen ist, und auch, dass sie sich Sorgen um mich macht. Folglich verhalte ich mich wie sie, ich habe meine Lektion gelernt, ich jammere nicht, sondern erzähle ihr lieber, dass wir im Frühling mit einem Schiff nach Dänemark fahren. Und sie freut sich mit mir schon im Voraus, was für ein Glückskind ich doch bin!
Als Herr und Frau Bergen herunterkommen, sind sie irgendwie anders als sonst. Sie trinken ihren Kaffee und rauchen, genau wie immer, aber sie strahlen etwas merkwürdig Angespanntes aus. Ihre Bewegungen wirken verkrampft. Vielleicht haben sie sich gestritten, denke ich mir. Es ist schon fast elf, als sie endlich beschließen, ihre Sachen zusammenzupacken und wegzufahren. Bevor sie das Haus verlassen, sagt mir Frau Bergen, sie kämen eventuell erst spät am Abend zurück und ich solle dann ruhig schon mit den Kindern essen und nicht auf sie warten. Ich bitte sie, es zu wiederholen, um mir ganz sicher zu sein: Ja, wir können am Abend ohne sie essen, sie wissen nicht genau, wann sie zurückkommen. Dann geht sie noch einmal nach oben, als wenn sie etwas vergessen hätte. Herr Bergen wartet im Flur, wirkt weder ungeduldig noch verärgert. Seine Gelassenheit erstaunt mich. Ich habe noch nie erlebt, dass er sich aufgeregt hätte, weder über die Kinder noch über den Hund, der manchmal mit Pfoten voller schmutzigem Schnee durchs Haus läuft, noch über seine Frau, die irgendwie nie zu wissen scheint, was sie will. Er zündet eine neue Zigarette an und unsere Blicke treffen sich. Wir wissen nicht, was wir uns mit den Augen sagen sollen, also lächeln wir nur vorsichtig, nicht dümmlich, sondern vorsichtig, als wenn dieses Lächeln ein Wort wäre, ein gesprochenes Wort, in keiner Sprache, wir sagen uns etwas Wohlwollendes oder besser gesagt Aufmunterndes. So, als würde ich ihm schweigend dafür danken, dass er immer so ausgeglichen ist – so ist,
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